Deutschlands arme Kinder

 

 

Nicht nur im Sinne von materiell arm, sie sind vor allem arm an ehrlichen und freundschaftlichen Beziehungen, an Möglichkeiten der Selbsterfahrung und Selbstentwicklung. Unseren Kindern fehlt es häufig an Mitgefühl, an Empathie, an Sozialkompetenz.

Diese Meinung vertritt auch der Kindheitsforscher Michael Hüter. Seine These: Nie ging es Kindern emotional so schlecht wie heute. Kitas und Ganztagsschulen für Kinder jeden Alters hält Hüter für den diametral falschen Weg. (Focus.de vom 21.02.2020)

Der moderne Mensch mutiert zum Kommunikationskrüppel, der unter „Miteinander Reden“ das Simsen abgehackter Sätze versteht. Werte wie Freundschaft und Freund schrumpfen zur Bedeutungslosigkeit. Wir sind alle nur noch „friends“ in diversen Internet Communities. Wir genauso wie unsere Kinder, ich klammere da niemanden aus.

Das, was man als gesellschaftliches Miteinander bezeichnet (common sense), läuft auf einen gemeinsamen oberflächlichen Spaßfaktor hinaus oder fußt auf gegenseitigem materiellen Nutzen, während Eigen- und Mitverantwortung, Mut, Achtsamkeit, Teamgeist, Toleranz, Treue, Güte, Zuverlässigkeit, Dialogbereitschaft, Mäßigung, Geborgenheit, Vertrauen und Liebe nur noch marginal zum Ausdruck kommen. Aus diesem Defizit heraus bröckelt der Zusammenhalt, in der Familie, in der Gruppe, vor allem zwischen Jung und Alt. Und so bröckelt auch langsam aber sicher unsere Gesellschaft und schafft ihre Kinder ab oder verzieht sie. Deutschland ist arm an Kindern!

Fakten lassen aufhorchen!

 

Geburtenrate

Die weltweit niedrigste Geburtenrate (Kinder pro 1000 Einwohner) wird einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO und des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) zufolge zum Standortproblem für Deutschland. Gemäß dieser Erfassung wurden in den Jahren 2009 bis 2014 im Durchschnitt 8,3 Kinder je 1000 Einwohner geboren, einem Wert, der noch unter dem ehemaligen Schlusslicht Japan mit 8,4 Kindern je 1000 Einwohner liegt.

Kinder schreien, quengeln und sind für viele daher nur nervig, lästig und einfach uncool. Hinzu kommt, dass sie von einer Generation „Schneeflocke“

Generation Schneeflocke

zusätzlich weitgehend antiautoritär erzogen werden und man ihnen keinen Respekt und keine Manieren anerzieht. Wegen all dem werden sie aus vielen Mietwohnungen, Parkanlagen, Hotels, Restaurants, Cafés, Supermärkten, Campingplätzen und Museen verbannt. Ja manche lässt man schon garnicht mehr im eigenen Garten tollen, weil es den Nachbarn stört. So entstehen immer mehr kinderfreie Zonen, denn Kinder gelten zunehmend als Vandalen, als flegelhafte Rabauken und als Lärmbelästigung aber nicht als Bereicherung.

Lieber weniger Verantwortung und dafür mehr Party, denkt so mancher Lustmensch. In einer Spaßgesellschaft passt es eben nicht, so einen lästigen Balg als Klotz am Bein hängen zu haben. Schließlich will Frau sich selbst verwirklichen und nicht um die Kindererziehung und den Herd kümmern. 40 Prozent der deutschen Akademikerinnen bleiben darum dauerhaft kinderlos.

Und das „männliche“ Pendant trifft sich lieber mit „Freunden“, eher sind es Saufkumpane, als sich um den Sprössling zu kümmern. Ebenso, wie die Ehe ein Auslaufmodell darstellt, so sind Kinder unbequem, schränken sie doch die persönliche Freiheit arg ein.

Hinzu kommt, dass Firmen familiär möglichst ungebundene Arbeitskräfte suchen. Bei Frauen werden diejenigen bevorzugt, deren Familienplanung abgeschlossen ist. Unternehmen brauchen flexible Angestellte, die ortsungebunden sind und beliebig an anderen Betriebsstandorten eingesetzt werden können.

Dann doch lieber ein Haustier, das lässt sich entsorgen, wenn es nicht mehr benötigt wird. So tickt unsere scheinheilige Gesellschaft, der das Wohl von Haustieren näher am Herzen liegt, als das der Kinder.

Tatsache ist leider auch, dass für Familien im ach so reichen Deutschland Kinder ein Armutsrisiko darstellen können. Kosten für Nahrung (Hartz IV-Sätze für eine gesunde Ernährung von Kindern – 2,57 €/Tag – sind nicht ausreichend), Kleidung (meist Markenkleidung), Kinderbetreuung (Kitaplätze sind rar und teuer), Spielzeug, Schulsachen und Prestigeobjekte wie Smartphone, Tablet und PlayStation (was den Kindern von ihrem Umfeld so eingeredet wird) treiben die Ausgaben in die Höhe.

Hinzu kommen Kosten für Reiten, Ballett, Tennis, Sportvereine u.a.m. Der Staat hilft zwar mit Erziehungsgeld, Kindergeld und steuerlichen Vergünstigungen, aber das ist viel zu wenig, um tatsächlich einen Anreiz zum Kinderkriegen zu schaffen, zumal der bürokratische Aufwand oft nicht im Verhältnis zum Ergebnis steht. Auch sind die kostenlosen Angebote für Kinder zu wenig. Für jedes Kind sollte ein kostenloser Kindergartenplatz geschaffen werden und für Familien mit geringerem Einkommen sollten die Schulkosten vollständig vom Staat übernommen werden. Denn was nützen den Familien mit geringem Einkommen eine Steuervergünstigung?

Und wer kann sich später leisten, seinem Kind oder seinen Kindern ein Studium zu finanzieren, bei den Mietpreisen und eventuellen Studiengebühren, die ständig im Gespräch sind? Ach ja BAföG! Haben Sie schon einmal einen BAföG-Antrag gestellt? Dann wissen sie, warum Deutschlands Bürokratie sich für viele Bereiche als Hemmschuh gestaltet?

 

Kinderarmut

Im reichen Deutschland leben 2,5 Millionen Kinder an der Armutsgrenze und darunter. Damit ist jeder sechste der 13,1 Millionen Minderjährigen von Armut bedroht. Besonders gefährdet sind Kinder in Haushalten von Alleinerziehenden. 80 Prozent der ca. 1,6 Millionen Alleinerziehenden leben an der Armutsgrenze.
In gut einem Fünftel aller in der oben genannten Studie befragten Haushalte mit Kindern unter 16 Jahren wird aus finanziellen Gründen auf eine jährliche Urlaubsreise verzichtet. Sieben Prozent der Haushalte gaben an, wegen Geldmangels bestimmte Freizeitangebote wie Sport oder Musizieren nicht nutzen zu können.

 

Kinderbetreuung

Etwa 32,9 Prozent (Stichtag 01.03.2015) der Mädchen und Jungen unter drei Jahren werden in einer Kindertagesstätte oder von einer Tagesmutter betreut (Während 2006 noch 283 000 Kinder in Deutschland betreut wurden, sind es 2013 etwa 623 000; Tagesschau 2014).

Die Eltern, als überlastete Doppelverdiener, haben einfach keine Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie überlassen das leichtfertig anderen, dem Staat. Und dieser tut einiges dafür, dass die in Kitas geparkten Kinder im Sinne der staatlichen Ideologie erzogen werden und ihr Denken betreut wird. Nur so lassen sich fleißige, kauffreudige und gefügige Marionetten züchten, die nicht aufbegehren gegen die regierenden Eliten. Gezüchtet werden Neid, Egoismus und eine Ellenbogenmentalität und nicht Zusammenhalt, Zivilcourage und wirkliche Empathie. Der Mensch wird auf Schein getrimmt. Wichtig ist, wie man sich in der Öffentlichkeit präsentiert, wie man dasteht, wie angesehen man ist und wie hell der eigene Heiligenschein glänzt.

Goethe meinte: „Was ist das ein Jagen auf dieser Erden, nach Rang und Ruhm und gleißendem Schein. Im hitzigen Fieber etwas zu werden, versäumen die Toren etwas zu sein“.

Dabei entspricht eine Trennung von Mutter und Kind nicht den naturgemäßen Bedürfnissen des Kindes. Solche Isolierungen, gerade im Kleinkind-Stadium, führen nicht selten zu ADHS, Verhaltens- und Sprachstörungen und zu Verlustängsten bei den Kindern (etwa jedes vierte Kind in Deutschland zeigt psychische Auffälligkeiten, vor zehn Jahren war es nur jedes fünfte http://www.zeit.de/zeit-wissen/2011/05/Psychisch-kranke-Kinder ).

Andererseits zur abnormen Individualisierung mit späteren Bindungsängsten. Bleibt doch die wichtige Bindung zwischen Eltern und Kindern als angeborenes Bedürfnis (http://www.kindergartenpaedagogik.de/1722.html ) bei einer permanenten Trennung von über drei Viertel des Tages, also der Zeit, in der die Kinder wach sind, zwangsläufig auf der Strecke. Genauso wie die Nestwärme, die in den ersten Lebensjahren gerade von Kleinkindern dringend benötigt wird. Es entstehen eklatante Defizite, zumal Fremdbetreuung Stress für die betroffenen Kinder bedeutet (Early Life Stress-Test). Ahnert et al. konnten 2004 nachweisen, dass in Kinderkrippen ohne Anwesenheit der Mutter der Blutspiegel des Stresshormons Cortisol um 70 bis 100 Prozent anstieg. Langzeitfolgen sind damit vorprogrammiert. Zum gleichen Ergebnis kommen in Zürich Neurowissenschaftler um Isabell Mansuy, jedoch bei Mäusen, die durch frühen Stress über mehrere Generationen genetische Veränderungen durch Methylierung an DNS-Zellen aufwiesen. Eben solche Genveränderungen bei menschlichen DNS-Zellen konnten durch Kober et al. 2011 nachgewiesen werden. Als Ursachen hierfür konnten depressive und gestresste Mütter wie Väter in früher Kindheit ausgemacht werden.

Studien (National Institute of Child Health and Human Development, kurz NICHD-Studie: Belsky et al. 2007, 2009 u. 2010, FCCC-Family, Schweizer Studie von Averdiyk et al. 2011, Quebecer Projekt von Baker u. Milligan 2005 sowie die Norwegen-Studie von Lekhal 2012) ergaben, je mehr eine nichtverwandtschaftliche Betreuung von Kleinkindern bis zu einem Alter von 4,5 Jahren an wöchentlichen Stunden einnahm, desto mehr traten Verhaltensauffälligkeiten auf, wie Trotz, häufige Wutanfälle, Aggressivität, destruktives Verhalten, motorische Unruhe, Schwächen im Sozialverhalten, Aufmerksamkeitsdefizite, Krankheitsanfälligkeit, spätere Depressionen sowie mangelnde Empathie. Aber auch Kontaktschwäche und Abkapselung.

In Anlehnung an Ahnert et al. ergab die NICHD-Studie „Study of early child care and youth development“ (SECCYD) aus dem Jahr 2009 unter der Leitung von Jay Belsky, dass Kinder, die mindestens 10 Stunden pro Woche in der Kinderkrippe verbracht hatten, im 6. Schuljahr häufiger Aggressionen und schwieriges Verhalten zeigen, als Kinder, die von den Eltern, der Tagesmutter oder einem Kindermädchen betreut wurden. Der gemessene Grad an Aggressionen war zwar hoch, aber noch im „Normbereich“. Allerdings lässt die Vielzahl der betroffenen Kinder die Wissenschaftler aufhorchen. Dieses Studienergebnis stützt die Beobachtungen psychoanalytischer Entwicklungspsychologen, nach denen Kleinkinder die persönliche, kontinuierliche und umfassende Zuwendung mindestens einer Bezugsperson brauchen, um sich in gesunder Weise emotional entwickeln zu können.
(Quelle MEDIZIN-IM-TEXT und Eunice Kennedy Shriver National Institute of Child Health and Human Development)

Selbst bei hoher Qualität der Kinder betreuenden Einrichtung traten solche Dispositionen auf. Hingegen wiesen Joan L. Luby et al. 2012 von der Washington University School of Medicine, Department of Psychiatry, nach, dass sich eine fürsorgliche Mutter-Kind-Beziehung signifikant auf eine gesunde Entwicklung des Gehirns auswirkt, speziell des Hippocampus. In diesem laufen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammen, werden verarbeitet und vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis übertragen. Der Hippocampus erfüllt damit eine wichtige Aufgabe den Lerneffekt betreffend. Außerdem spielt der Hippocampus eine wichtige Rolle bei Emotionen. So zeigen Personen mit Depressionen ein geringeres Hippocampus-Volumen.

Der englische Psychologie-Professor Jay Belsky schrieb daher 2007: „Es ist nicht länger haltbar, dass Entwicklungswissenschaftler und Krippenverfechter leugnen, dass frühe und extensive Krippenbetreuung, wie sie in vielen Gemeinden verfügbar ist, ein Risiko für kleine Kinder und vielleicht für die ganze Gesellschaft darstellt…“

Im Kindergartenhandbuch schreibt Martin R. Textor im Schlusswort: Die NICHD-Studie verdeutlicht – wie vergleichbare wissenschaftliche Untersuchungen – zum einen den Zusammenhang zwischen der (Qualität von) Fremdbetreuung und der kindlichen Entwicklung sowie zum anderen die große Bedeutung von Familienfaktoren (z.B. Qualität der Familienerziehung und der Ehebeziehung). Deshalb sollte seitens der (Kommunal-, Familien-, Bildungs-) Politik nicht nur in die qualitative Verbesserung der Betreuungsangebote, sondern auch in die Ausweitung und Intensivierung der Ehe- und Familienbildung investiert werden (vgl. NICHD Early Child Care Research Network 2003c; Belsky et al. 2007). Belsky (2002) plädiert auch für einen langfristigen, bezahlten Erziehungsurlaub und für eine Ausweitung der Teilzeitbeschäftigung, sodass unter Dreijährige und Kleinkinder erst relativ spät und dann nur für wenige Stunden am Tag fremdbetreut werden müssten. Ferner sollte das Steuerrecht Familien begünstigen, die kleine Kinder weitgehend in der Familie erziehen.
Quelle:http://www.kindergartenpaedagogik.de/1602.htmlHinzu kommt, dass gemäß der NUBBEK-Studie, die 2012 vom Bundesfamilienministerium gefördert wurde, die Hälfte aller Kinder in Krippen, Kindergärten oder bei Tagesmüttern nur mittelmäßig bis schlecht betreut wird. Die seit Jahren geforderte Hochschulausbildung für Erzieher wäre eine Lösung, ist aber illusorisch in Anbetracht des Personalmangels. Aufgrund dieser Tatsache werden die vielerorts niedrigen Standards weiter sinken, denn Zehntausende qualifizierte Fachkräfte fallen nicht über Nacht vom Himmel. Und so werden die Gruppen eben vergrößert und damit die Betreuungsschlüssel weiter verschlechtert. Bis heute hat sich da nichts geändert, außer, dass Erzieherinnen vermehrt an Burn Out leiden und dass es bis heute keine einheitlichen Qualitätsstandards gibt. Ein sehr guter Artikel zu diesem Thema findet sich hier: http://trainyabrain-blog.com/2013/09/schicken-wir-unsere-kinder-zu-frueh-in-die-kita/

 

Wie war es zu meiner Kindheit?

Trotz der Nachkriegszeit meiner Jugend in den 1950er und 1960er Jahren, mit ihren verkrusteten Strukturen, in denen nach wie vor alte Nazis das Sagen hatten, durchlebten wir eine ziemlich unbeschwerte Jugend, die uns reichliche Zukunftsperspektiven bot. Wir besaßen nicht viel, aber wir waren zufrieden, wir konnten uns noch mit uns selbst beschäftigen, aus Werkstoffresten die tollsten Spielsachen basteln, Höhlen buddeln und Hütten oder Baumhäuser zimmern. Wir erlebten reale Abenteuer, nicht virtuell auf der Play Station. Wir stromerten durch Wälder und Wiesen, spielten Cowboy und Indianer, eiferten berühmten Waldläufern und Fährtensuchern nach. Wir fertigten Bögen, Schwerter und Schleudern, kletterten auf Bäume, rutschten Hänge auf dem Hosenboden herunter. Auf windigen Nachen stachen wir „in See“, rösteten am Lagerfeuer Kartoffeln, zogen heimlich am Rauchholz wie die Großen an Zigaretten, errichteten Staudämme im Bach und kamen oft mit Mückenstichen übersät aber zufrieden heim.

Wir lebten unsere Kinderträume wie Pippi Langstrumpf oder Huckleberry Finn. Diese Dinge haben uns geprägt, haben uns spielerisch heranwachsen und lernen lassen. Und vor allem hatten wir noch Zeit, wurden nicht gedrängt von einem engen, bis zur letzen Minute ausgetüftelten Terminplan.

Eigentlich, nach heutiger Mehrheitsmeinung, hätten wir tot umfallen müssen bei all dem Sand und der Erde, die wir mit unseren ungewaschenen Fingern in den Mund beförderten, bei all dem „Dreck“, in dem wir spielten. Wir wuschen uns nicht jedes Mal die Hände, wenn wir einen Kiesel aufhoben und in den Mund steckten, weder davor noch danach, eigentlich wuschen wir unsere Hände erst wieder im elterlichen Heim, um der Etikette genüge zu tun und dem elterlichen Anschiss aus dem Wege zu gehen. Aber wir lebten, waren frei, wie man damals frei sein konnte und vor allem gesund, mussten nicht gleich beim ersten Hatschi und Hüsterchen zum Arzt, um uns einer Antibiotika-Kur zu unterziehen.

Das heute so verbreitete Übergewicht bei Kindern gab es zwar, doch recht selten, denn weder fühlten wir uns unter Leistungsdruck noch gestresst. Wir wurden anerkannt, so wie wir waren, dick oder dünn, arm oder reich, wir alle waren gleich, wurden als Gleiche geachtet und respektiert, meistens jedenfalls und hatten keine psychischen Probleme durch Zurückweisung und Missachtung.
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie in unserem humanistischen Gymnasium alle Kinder, egal aus welcher Gesellschaftsschicht sie stammten, aus armen Verhältnissen, aus dem Bürgertum oder als Söhne von Fabrikanten und Bankern, sich alle untereinander achteten. Keiner hatte es nötig, mit Statussymbolen zu protzen, den Bund seiner Designer-Unterhose herauslugen zu lassen, mit teuren Marken-Jeans oder Schuhen aufzutrumpfen, sich damit als mehr wert fühlend. Wir lebten in einer Gemeinschaft, ob draußen oder in der Schule, wir rieben uns, natürlich, es wurde auch manchmal heftig ausgeteilt, nicht nur verbal, aber alles hielt sich im Rahmen und war bald wieder vergessen und vor allem vergeben.

Gerne erinnere ich mich an Herrn „Q“ aus meinem Heimatort, einem großartigen Menschen, der sich stets selbstlos um uns Kinder kümmerte und unser Fußballtalent förderte. Sein unermüdliches Bemühen galt einem natürlichen ungezwungenen Gemeinschaftssinn und gegenseitiger Achtung. Er vermittelte uns Kindern Werte, wie sich ein Zusammenleben auf der Basis von beidseitiger Toleranz und Respekt positiv und nachhaltig entwickeln kann. Dazu gehört auch frei nach dem Spruch Juvenals „Mens sana in corpore sano“ die körperliche Ertüchtigung. Herr „Q“ lehrte uns zu erkennen, wie wichtig Disziplin, Ausgeglichenheit und Rücksichtnahme im Spiel und Sport sind, wie essentiell eine harmonische Balance zwischen Körper und Geist für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden ist. Er lehrte uns gelebten Humanismus.

Heute würde man bei solch einem selbstlosen und freiwilligen Bemühen wahrscheinlich gleich die Stirn runzeln und als Triebfeder für dieses Handeln pädophile Neigungen vermuten. Nicht diese Leute, die sich ernsthaft um den Nachwuchs kümmern sind krank, sondern viele der heute Lebenden, die ihre Normalität verloren haben, die sich selbst verloren haben und einem Zeitgeist unterordneten, der ihnen vorschreibt, was zu denken, zu fühlen und zu tun ist. Sicherlich gibt und gab es Fälle von Pädophilie, von Gewalt und Missbrauch, aber eher in genau den Einrichtungen, die sich die Moral dick auf die Fahne geschrieben haben, seien es kirchliche oder staatliche Einrichtungen. Aus diesen Fällen heraus gleich ins Gegenteil zu fallen, zeigt von Unreife, mangelnder Objektivität und unzureichendem Wissen. Die Deutschen haben sich zu Weltmeistern entwickelt, wenn es darum geht, alles 100 prozentig zu machen und dann noch eine Schippe obendrauf zu legen, alles muss zwanghaft und übertrieben geregelt sein – in allen Bereichen.

 

Den Deutschen entgleitet die Normalität.

Seit nun mehr 50 Jahren beobachte ich, wie die Familien permanent und gezielt gespalten und einer Leistungs- und Wirtschaftsideologie geopfert werden. Sie werden dem Zeitgeist angepasst, zu nahezu willenlosen Konsumenten erzogen. Eigenständiges Denken weicht einem betreuten Denken.

Alles ist ge- und verplant, geregelt und in Normen gepresst. Man lässt den Opfern, unseren Kindern, keinen Frei- und keinen Spielraum. Heute kommen die Kinder kaum aus dem elterlichen Garten heraus – wenn überhaupt vorhanden. Meist sitzen sie in abgedunkelten Räumen vor dem Fernseher, einer Konsole oder spielen mit dem Handy, wohlbehütet von ängstlichen Helikopter-Eltern. Sie, die Kinder, haben sich in der Gesellschaft zu behaupten aber vor allem den Ansprüchen der Eltern zu genügen, die häufig bereits bei Dreijährigen den Blick auf deren Karriere gerichtet haben.

Zeit zum Spielen, außer in einer virtuellen Realität als Beschäftigungsmaßnahme für quengelnde Kids, ist in diesem Leistungsplan nicht vorgesehen. Reithalle, Tennis und Musikunterricht, bei Mädchen das obligatorische Ballett, nichts wird dem Zufall überlassen, getrimmt, gebügelt, aalglatt und gestylt, eine Marionette einer streng leistungsorientierten Gesellschaft, die nicht befreit, sondern krank macht.

„Verinselte Kindheit“ nennen Soziologen diese Entwicklung. HELGA ZEIHER („Organisation des Lebensraums bei Großstadtkindern – Einheitlichkeit oder Verinselung“, 1990) weist auf die Folgen der sogenannten Verinselung hin, die sich dadurch äußert, dass sich der Lebensraum von Kindern nicht mehr zusammenhängend, sondern in inselartigen Bereichen darstellt. Um bestimmten Aktivitäten nachgehen und Kontakte knüpfen zu können, sind Kinder gezwungen, erst die verschiedenen „Inseln“ zu erreichen, müssen also von Insel zu Insel hüpfen, ein zeitaufwendiges und stressiges Unterfangen.

ANTJE FLADE (Wohnungsumgebung als Erfahrungs- und Handlungsraum für Kinder. In. TIETZE, W., ROSSBACH, H.-G. (HRSG.): Erfahrungsfelder in der frühen Kindheit. Bestandsaufnahme, Perspektiven. Freiburg im Breisgau: Lambertus, 35-55; 1993) sieht in der „Verinselung“ eine Entwicklungshemmung im Kindesalter. Durch die ständige Beobachtung und Begleitung von Erwachsenen gewinnt das Kind kein Selbstvertrauen.

Als hätten unsere Mütter und Väter vor 40 und mehr Jahren keine Kinder großgezogen, verlassen sich heutige Eltern lieber auf stapelweise Erziehungsratgeber, egal welchen Unsinn diese vermitteln, Hauptsache modern, weg von den „verstaubten“ Erziehungsmethoden der letzten Jahrtausende. Gurus und sogenannte Fachleute machen sich einen Namen, indem sie neue Methoden, ihre Methoden, ihre Bücher, ihre Ergüsse anpreisen und zu Geld machen. Karrieredenken ersetzt Vernunft.

Natürlich ist die Welt dichter zusammengewachsen, sind die Freiräume geschrumpft. Die Welt ist gefährlicher, schneller, hektischer, ohne Romantik, ohne Raum für Ruhe. Und klar gab es früher auch die oben genannten Freizeit-Zwänge, aber nicht in dieser Häufigkeit, sie überfielen uns nicht in dieser Wucht, sie vereinnahmten uns nicht, wir waren noch Herr unserer Freizeitgestaltung und nicht Sklaven ambitionierter Animationsdompteure.

Eine seltsame Entwicklung. Und das obwohl die Forschung deutlich bewiesen hat, wie dringend Kinder das freie Spiel an der frischen Luft benötigen, sei es nur um die Lungen zu durchlüften oder die Melanin-Produktion in der Haut zu aktivieren. Neben den positiven Gesundheitsaspekten fördert das Spielen draußen einschließlich dem Umgang mit Naturstoffen die körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie das Erlernen sozialer Kompetenzen. Darin ist sich die Wissenschaft einmal einig und verbriefte in Anbetracht dieser Erkenntnisse das „Recht auf freies Spiel“ sogar in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen.

Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung nun mal Freiräume, Natur, Rituale und Ruhe.

Kindgerechte naturnahe Spielangebote sind entwicklungsfähige Räume, Elemente, die die Kinder selbstbestimmt aufsuchen, in denen sie noch „Natur“ mit allen Sinnen erleben, sich auf vielfältige Art erproben, kreativ einbringen können, in die sie sich (vor den Erwachsenen) zurückziehen, wo sie ein Stück Freiheit und Abenteuer, aber auch natürliche Grenzen erleben können, heißt es in den „Mainzer Thesen für eine kinderfreundliche Umwelt“ des Ministeriums für Umwelt und Forsten Rheinland-Pfalz (Juni 1997).

In diesen Thesen werden gleichzeitig aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen besorgniserregende Entwicklungen und Defizite bei Kindern festgestellt:

• Kindergärten sind gezwungen, immer mehr elementar-kindliche Verhaltensweisen wie Matschen, Ausprobieren, eigenständiges Spielen den Kindern anzulernen, ihnen Bewegungen anzutrainieren.

• Schulen beklagen massive Bewegungsstörungen, Rechen- und Schreibschwächen sowie Konzentrationsprobleme, mangelndes Sozialverhalten bei gleichzeitiger Zunahme aggressiver Konfliktlösungen.

• Die Sozial- und Kindereinrichtungen bei den Kommunen betreiben einen immer größeren Inszenierungsaufwand zur Beschäftigung der Kinder in den verbleibenden freien, unverplanten Zeiten (z.B. Ferienspiele).

• Unfallversicherer konstatieren eine Häufung von Unfällen, die auf fehlende motorische Fähigkeiten zurückzuführen sind.

• Seitens der Wirtschaft wird besorgt kritisiert, dass sich in der heranwachsenden Generation ein Mangel an Kreativität, Flexibilität, Selbstvertrauen und Risikobereitschaft breit macht.

• Krankenversicherungen sehen eine Kostenlawine durch eine Fülle von langwierigen einzeltherapeutischen Maßnahmen zur Minimierung von Fehlentwicklungen auf die Allgemeinheit zukommen.

• Mediziner stellen eine Häufung von Störungen fest, die aus einer andauernden Sinnesüberreizung im akustischen und optischen Bereich oder aus einem Mangel an Bewegung resultieren.

• Kommunen beklagen Verwüstungen an öffentlichen Einrichtungen, mangeln- des Verantwortungsgefühl und zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber öffentlichen Angelegenheiten bei steigenden egoistischen Forderungen an die Allgemeinheit.

Die Ursachen für diese zunehmenden und besorgniserregenden Defizite liegen in familiären und gesellschaftlichen Veränderungen, aber auch im irreversiblen, bisher weitaus unterschätzten Verschwinden von anregungsreichen Spiel- und Bewegungsräumen im Wohnumfeld, so das Umweltministerium.

Besinnen wir uns, lassen es nicht zu, solche Defizite entstehen zu lassen, beweisen wir, aus Erfahrung gelernt zu haben. Zeigen wir Stärke, Mut und Vertrauen. Wir benötigen mehr Vertrauen, nicht nur in unsere Kinder, sondern vor allem auch in uns selbst.

So abgedroschen wie einerseits der Spruch „Kinder sind unsere Zukunft“ auch sein mag, er ist und bleibt ein elementares Kernstück unserer Gesellschaftsform und unserer Kultur, eigentlich jeder Kultur, sofern sie nicht versiegen will. Die gedankliche Durchdringung und praktische Umsetzung dieser Erkenntnis gehört damit zu den großen Zukunftsaufgaben Deutschlands.
Um diese Aufgaben bewältigen zu können, bedarf es des Erhalts und der Vermittlung einer weltoffenen und humanistischen Weltanschauung, in dem ein Menschenbild aufgebaut werden soll, zu dem die freie Entfaltung der Persönlichkeit einschließlich der Selbstverantwortung ebenso gehören wie die soziale Verantwortung und die Bereitschaft zur Solidarität.

Kinder, die naturnah aufwachsen, entwickeln eine Anzahl von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die notwendig sind, Probleme zu lösen und Schwierigkeiten in einem bestimmten kulturellen Umfeld zu überwinden (HOWARD GARDNER: „Frames of Mind. The theory of multiple intelligences.Basic Books, New York NY 1983, ISBN 0-465-02508-0).
Zu diesen Fähigkeiten gehören insbesondere das Wahrnehmungsvermögen, der Gleichgewichtssinn, die eigene Motorik, Selbstvertrauen, Geschicklichkeit, Teamgeist, ein Gefühl für Gruppenzugehörigkeit, Toleranz sowie soziale Kompetenz. In Themenparks wird zusätzlich die Blickweise und Wertschätzung für unsere Natur, Kultur und Geschichte geschärft.
Neben diesen wichtigen Lerneffekten wachsen die Kinder unbeschwerter auf und erweisen sich als widerstandsfähiger gegenüber äußeren negativen Einflüssen (Resilienzforschung). Sie zeigen sich zudem ausgeglichen und aufnahmefähig in anderen Bereichen, wie Kindergarten oder Schule.

Kinder, die oft in der Natur an frischer Luft, bei Wind und Wetter spielen und herumtollen, sind, wie oben bereits erwähnt, gesünder im Gegensatz zu Stubenhockern, erkranken seltener an grippalen Infekten, an Allergien (HURRELMANN 2002), leiden weit weniger unter Haltungsschäden, Essstörungen, Übergewicht und anderen psychosomatischen Defekten (PALENTIEN et al. 1998) mit all den drohenden Spätfolgen, die eine Lawine von langwierigen und kostspieligen Einzeltherapien nach sich ziehen (Mainzer Thesen für eine kinderfreundliche Umwelt).

DORDEL (1998, S. 99f) bezeichnet Bewegungsmangel als einen Risikofaktor im Kindesalter: Eingeschränkte Wahrnehmungs- und Bewegungserfahrungen im Kindesalter führen zu körperlicher Leistungsschwäche und motorischen Defiziten und Auffälligkeiten. Diese wiederum können – entsprechend der Bedeutung der Motorik für die Entwicklung eines Kindes – Auffälligkeiten in anderen Persönlichkeitsbereichen nach sich ziehen. Hier sind insbesondere negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Selbstkonzepts und des Sozialverhaltens, aber auch Störungen im Bereich des Lern- und Leistungsverhaltens zu nennen.
In einer U.S.amerikanischen Studie haben FABER TAYLOR et al. (2001a) nachgewiesen, dass sich naturnahe Spielumgebungen positiv auswirken bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefizit- Syndrom (ADS). Die untersuchten Kinder zeigten nach Freizeitaktivitäten in „grüner“ Umgebung eine Verbesserung ihrer Aufmerksamkeit: „the ‚greener‘ a child’s play area, the less severe his or her attention deficit symtoms“ (ebd. S. 54).
Wer gesund ist, belastet auch nicht das eh schon überstrapazierte Gesundheitssystem.

Die gesamte Gesellschaft profitiert vom Spielen unserer Kinder unter Kindern in freier Natur, als Instrument gegen soziale Ungleichheit. Dazu zählt insbesondere eine erfolgversprechende Integration sowie Re-Integration in die Gesellschaft, wobei sich das Thema Integration keineswegs nur auf „Ausländer“ bezieht. Integration will strukturelle, soziale, bildungsbezogene und andere Benachteiligungen in allen gesellschaftlichen Bereichen ausgleichen. Es geht um das Verhältnis von Minderheit und Mehrheit, es geht um interkulturelle Verständigung und um eine gleichberechtigte und demokratische Auseinandersetzung aller Bürgerinnen und Bürger, schreibt der Jurist Hubertus Schröer in „Kommunale Integrationskonzepte. (Herausgeber der Broschürenreihe: „Netzwerk Integration Bayern“, ein Projekt des VIA Bayern e.V.)
Wie er nach meiner Meinung richtig herausstellt, sind Integration und Bildung Investitionen für eine langfristig wirtschaftlich erfolgreiche Kommune und damit eine Grundvoraussetzung für Bürgerbeteiligung und sozialen Frieden. […] Integrationspolitik sichert eine gute Ausbildung und Arbeitsmarktbeteiligung für alle jungen Menschen und verringert soziale Transferleistungen der Gesellschaft.

Um für unsere Zukunft ein würdevolles Leben in Freiheit, Demokratie und Frieden zu sichern, brauchen wir Kinder, aufgeklärte Kinder, Kinder mit Empathie, mit Fähigkeit zur Selbstreflexion, logischem Abstrahierungsvermögen, Verstand und Sinn für Gerechtigkeit.

 

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