Sehnsucht


In mir lodert das Feuer des Fernwehs, der Sehnsucht nach Abenteuer, unberührter Natur, atemberaubenden Landschaften und fremden Kulturen, nach unbeschwerten Reisen auf einsamen Pfaden, ohne Zwang, ohne Angst, abseits des Massentourismus, aber auch in pulsierende Metropolen. 

Wir liebten es, Städte zu Fuß zu erkunden, morgens, wie in Paris, wenn es erwacht (PARIS S′ÉVEILLE von Jacques Dutronc), bevor die Touristen aus ihren Betten krochen. Wir mieden typische Touristenhotels, schliefen lieber in kleinen Herbergen, Seemannsheimen, in YMCA-Hostels, genossen Bed & Breakfast oder nächtigten unter freiem Himmel. Mit wir meine ich meine Frau, Freunde und später meine Söhne sowie mich selbst. 

Wir hatten das Glück, Sehenswürdigkeiten zu einer Zeit erkunden zu können, ohne touristischen Ausverkauf. Weder gab es Eintrittspreise zum Kolosseum in Rom noch traf man Touristen auf dem alten Inkapfad nach Machu Picchu. Die chinesische Mauer bestiegen wir bei Simatai und nicht in Badaling, wo der Massentourismus einfiel und einfällt. Wir trampten durch die USA und durch Venezuela, schliefen an Deck eines alten Kahns in der Karibik während hoher See, reisten mit leichtem Handgepäck durch ganz Südamerika, schliefen in Hängematten auf einem Amazonasdampfer, nutzten örtliche Bussverbindungen, saßen zwischen Einheimischen, Hühnern und spielenden Kindern und stiegen in Rio de Janeiro auf den Corcovado empor zur Christusstatue ohne nachts auf dem Rückweg belästigt zu werden. Wir saßen unterhalb einer Festung auf einer kleinen Anhöhe, von der die Stadt Montevideo ihren Namen erhielt, blickten auf ein Stadtviertel, das in den 1950er Jahren stehen geblieben zu sein schien und sogen die Luft der großen weiten Welt in uns hinein. 

Egal ob in europäischen Ländern, der Türkei, in Nord-, Mittel- oder Südamerika, in Thailand, Burma, Vietnam, China, Malaysia, Madagaskar oder Indien, nirgends hatten wir Angst vor Übergriffen. Selbst in Bogota oder Mexico City, wo man uns vor Diebesbanden warnte, erlebten wir nichts dergleichen. Allein in Südafrika ergriff uns ein beklemmendes Gefühl, ausgelöst von der augenscheinlichen Situation, in der Schwarze von Weißen ausgebeutet und als minderwertig angesehen wurden. 

Dieses Gefühl des Unwohlseins, der Angst, überkommt einen mittlerweile fast überall auf der Welt. Wenn man nicht einmal mehr sicher durch die Kleinstadt Villach in Österreich gehen kann oder durch unser nahegelegenes Städtchen Pfarrkirchen, wo Talahons andere Jugendliche provozierend anrempeln, dann stimmt etwas nicht.

Die Zeit sorgloser Reisen ist vorbei, selbst vor Städtetouren raten uns bereits unsere erwachsenen und reiselustigen Kinder ab. Nichts ist mehr so wie es war.

In den 1970er Jahren konnten wir fliegen ohne kontrolliert zu werden. Selbst kleinere Messer durften wir mitführen, größere wurden während des Fluges beim Kapitän deponiert. Keiner hatte Angst nachts durch Europas Städte zu laufen. Security kannten wir nur aus den USA und nur vereinzelt bei Nacht, abgeschottete, bewachte Areale reicher Leute nur aus China und Südafrika. 

Ich möchte raus, einfach nur weg („Sehnsucht“ von Purple Schulz 1984). Ich sehne mich zurück nach jenen Jahren der Zuversicht und weitgehender Sorglosigkeit, Jahre in denen es für jeden, der arbeiten wollte auch Arbeit gab. Jahre, wo Wohnungen zu haben, Mieten erschwinglich und Lebensmittel noch ein Genuss waren, wo der Mensch in der Regel als Mensch galt und nicht nach Statussymbolen beurteilt wurde. Sicherlich gab es Neid und Missgunst, aber kein Mobbing in der heutigen Form. Lehrer waren meist Vorbild und versuchten nicht die Schüler politisch und gesellschaftlich zu konditionieren. Leistung und Können waren Maßstab für die Qualifikation und nicht die Quote. In der Regierung hatten noch Staatsmänner das Sagen und keine engstirnigen Berufspolitiker ohne sonstige Berufs- und Lebenserfahrung, die das Volk erziehen und belehren wollen. Auch wenn es Versuche der Indoktrination und Unterdrückung in Schulen gab, vor allem in den 1950er Jahren, wogegen sich der Song von Pink Floyd aus dem Jahr 1979 richtete,

„We don′t need no education
We don’t need no thought control
No dark sarcasm in the classroom
Teacher, leave them kids alone“ 

folgte Anfang bis Ende der 1960er Jahre schrittweise eine Phase des Um- und Aufbruchs, der Befreiung von verkrusteten Ansichten und Zwängen. Es waren die goldenen Jahre dank Ludwig Erhard, die wie ein Befreiungsschlag wirkten. Wirtschaftsaufschwung, Wohlstand für alle, Verbesserung der Beziehungen zu Israel und den USA. Hoffnung prägte unser Leben, eine Hoffnung, die jedoch nur wenige Jahrzehnte währte, sich nicht erfüllte, sondern Stück für Stück am politischen Unvermögen und an fehlender Weitsicht während der letzten 20 bis 25 Jahre zerbrach.

Ich habe Heimweh. Ich möchte das Deutschland zurück, wo niemand Existenzängste haben musste, wo man auf den Straßen unbeschwert feiern konnte, es noch keine Betonpoller vor Märkten und Personenkontrollen bei Veranstaltungen gab. Wo Parks und Schwimmbäder sicher und NOGO-Areas selten waren. Wo Deutschland noch nicht unversöhnlich in Links und Rechts gespalten war und niemand Angst vor Terroranschlägen haben musste. Wo einem noch kein WEF weismachte, du seist glücklich, wenn du nichts besitzt. Wo die Bürokratie noch nicht ausuferte.

Man ließ uns leben, eigene Erfahrungen sammeln, belehrte uns nicht ständig. Wir waren frei!

Sicherlich möchte ich einige Vorzüge und Annehmlichkeiten der heutigen Zeit ungern missen, aber machen diese das wett, was wir verloren haben, unsere Freiheit?