SEQENENRE

Seqenenre Tao war König von Theben und letzter König der Ägypter. Er war der Bewahrer alter Sitten und Traditionen. Die Geheimnisse um die Ursprünge des Seins und um alles Göttliche galt es im Verborgenen zu halten, fern der Frevler.

Nur mündlich wurden diese Geheimnisse weitergegeben. Alles was schriftlich überliefert würde, unterläge unweigerlich der Verfälschung durch die Verleumder und damit der Vergessenheit. Nur das Wort alleine konnte die Wahrheit in ihrem ursprünglichen Sinn und ihrer Reinheit übermitteln.
Denn so gab es keine argwöhnischen Neider, die den Wert nicht kannten und die so wundervolle Wahrheit nur mit Füßen treten würden.

Diese Last machte dem König schwer zu schaffen, denn die Sterne standen nicht gut für sein Land. Seit über hundert Jahren wurde es regiert von kriegerischen Hyksos, die auch den Pharao und somit den Apopi, den Schlangengott, stellten. Dieser galt als Gegenspieler der göttlichen Gerechtigkeit, der Ma’at, und verkörperte Selbstsucht und Falschheit.

Noch kannte Apopi, als Eindringling und Fremder nicht die alten Geheimnisse, die nur von Würdigen an Würdige übertragen wurden. Allerdings ahnten die Herrscher etwas von dem verborgenen Wissen. Es ließ ihnen keine Ruhe danach zu suchen und jedes Mittel war ihnen recht, dieses Wissen an sich zu reißen, denn sie glaubten dadurch Unsterblichkeit und ewige Macht zu erlangen.

Gedrückt von schweren Gedanken und mit sorgenvoller Miene war Seqenenre auf dem Weg zum heiligen Tempel Thebens, das Gefühl nicht loswerdend, verstohlen beobachtet zu werden. Er spürte nahezu die gierigen Blicke, die auf seiner Gestalt lasteten, als wollten sie seine Kleider vom Leibe reißen, sein Innerstes nach außen kehren. Was solle er tun, wer wäre würdig genug, die Bürde zu übernehmen und weiterzutragen, wo er doch nur von Heuchlern umgeben war.
So begab er sich sinnend in den Tempel, Gott um Rat zu bitten. Doch er war zu aufgebracht und konnte keinen Kontakt zu dem Weisen der Himmel finden.
Müde kehrte er um, sich dem westlichen Tor des Tempels nähernd, als plötzlich einer der Söhne Jakobs auf ihn zusprang und ihm drohte das Leben zu nehmen, wenn er ihm nicht die Geheimnisse preisgeben würde.

Als Seqenenre dieser Forderung kopfschüttelnd und entsetzt begegnete, schlug Simeon auf ihn ein. Ein kräftiger Schlag traf ihn an der Gurgel, der ihm den Atem nahm. Panikartig lief er quer durch den Tempel, um durch das Südtor zu entfliehen.

War er auch schon im hohen Alter und noch recht flink, so war er doch nicht wendig genug, um den dort auflauernden Levi zu entkommen. Wütend stellte dieser die gleiche Forderung und versetzte dem König, der sich verbissen weigerte, einen heftigen Hieb gegen dessen Brust, der den König zum Wanken brachte.

Schwer Luft holend drehte er sich um und versuchte erneut sein Heil in der Flucht. Vielleicht gab es durch das Osttor ein Entkommen. Schon schwächer werdend mit keuchendem Atem gedachte er durch dieses Tor zu entschlüpfen, als der dritte Bruder, Joseph, gemeinsam mit Simeon und Levi, die schnell um den Tempel herumgelaufen waren, auf ihn einsprangen. Levi hielt ihn an der Kehle und Simeon packte ihn harsch am Gewand vor der Brust.

„Hier nun ist Deine letzte Chance, uns von den alten Geheimnissen zu berichten!“, herrschte Joseph, der Wesir des Apopi war, den entkräfteten König an.
„Rede und Du bist frei!“

Der tapfere König gedachte jedoch in keiner Sekunde daran, seine Ahnen zu verraten und das alte Wissen in die Hände von Unwürdigen zu geben. Lieber nähme er die Geheimnisse mit in den Tod.

Als die, wegen des Misserfolgs zornigen Söhne des Jakobs erkannten, dass nichts aus dem Alten herauszupressen sei, holte Joseph zu einem tödlichen Hieb aus, der dem erhabenen König die Stirn zerschmetterte. Er merkte nicht mehr, wie er den Boden berührte, als er seinen Weg in den ewigen Osten antrat.

Nun aber merkten die Meuchelmörder was sie angerichtet hatten, und aus Angst, zur Rechenschaft gezogen zu werden, verscharrten sie den leblosen Körper unter einer Akazie und bedeckten ihn mit Sand und Steinen. Als sie dem Vater ihr fruchtloses Unterfangen, dem König das Geheimnis zu entreißen, beichteten, tadelte sie dieser wegen des Misserfolges und Mordes (Genesis 49,6). Dies würde das Ende der Hyksosherrschaft bedeuten, meinte Jakob. So geschah es, die Hyksos konnten dem immer stärkeren Aufbegehren der Ägypter nicht mehr standhalten. Nur knapp 50 Jahre später mussten sie aus Ägypten weichen, ihre 200 jährige Herrschaft war zu Ende.
©Andreas Manuel Gruss