Gedanken zur Vernunft

Vernunft gilt als eine der Kardinaltugenden neben Freiheit, Gerechtigkeit, Toleranz, und Nächstenliebe. Doch was beinhaltet ein vernünftiges Handeln, welche Voraussetzungen müssen gegeben sein?

Definition
Mit Vernunft wird die Fähigkeit des menschlichen Geistes bezeichnet, von einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen auf universelle Zusammenhänge der Dinge und allen Geschehens zu schließen, deren Bedeutung zu erkennen und danach zu handeln. Dies entspricht weitgehend der Induktion des Sokrates.

Vernunft und Verstand
Bei der oben genannten Definition handelt es sich allerdings um eine subjektive Wahrnehmung, die vom Verstand des jeweiligen Beobachters abhängt und damit unterschiedlichen Ausgangspositionen unterliegt. Somit ist auch die individuelle Vernunft als subjektiv zu sehen.
Folglich steht sich eine Vielzahl von Meinungen gegenüber, die den Schluss zulassen, dass sich die Anschauungen und Entscheidungen nicht nach den Gegenständen, so wie sie erscheinen, sondern danach, wie man sie wahrnimmt, richten. Wobei diese Wahrnehmung eben eine subjektive Wahrheit ist und auch in der Summe aller subjektiven Wahrheiten zu keiner absoluten wird aber dennoch einer objektiven nahekommt. Die Frage nach einer objektiven oder absoluten Vernunft als Gegenstück oder Voraussetzung der subjektiven ist berechtigt. Gibt es ein ordnendes Prinzip, wie den LOGOS oder Weltgeist, der alle Dinge des Universums weise lenkt?

Variablen der Vernunft
Für mich ergeben sich daraus folgende variable Parameter der Vernunft:

1. die jeweilige Auffassungsgabe durch die Sinne,
2. das Erkenntnisvermögen, aus den Wahrnehmungen Schlüsse zu ziehen,
3. der Verstand, der Wahrnehmung und Erkenntnis verarbeitet, diese beurteilt und zu entsprechendem Handeln führt.

Hingegen definierte Kant den Verstand als das an Sinneseindrücke gebundene Erkenntnisvermögen und setzte dies der Vernunft gegenüber, die er in eine theoretische und eine praktische unterteilte.

Die theoretische Vernunft ist nach Kant die Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen, sich selbst zu prüfen und unabhängig von der Erfahrung zu den apriorischen Vernunft-Ideen, wie Seele und Gott, zu gelangen.
Die praktische Vernunft hingegen bezieht sich auf das Setzen von ethischen Prinzipien, denen der Wille unterworfen wird und die so das Handeln individuell und sozial begründen und leiten. Die reine praktische Vernunft ist die Quelle des a priori gültigen Sittengesetzes.

Somit gehörten Auffassungsgabe und Erkenntnisvermögen zum Verstand, der der Vernunft gegenüber stünde, was ich nicht nachvollziehen kann, denn wie sollte sich ein vernunft¬bedingtes Handeln ohne Verstand entwickeln? Zumal die theoretische Vernunft in Kants Unterteilung seiner Definition des Verstandes weitgehend entspricht. Selbst die praktische Vernunft kann nur durch den Verstand getragen werden, denn wer nichts versteht, der kann auch keine ethischen Prinzipien aufstellen.

Kant schreibt: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: Dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.

Wie aber können die einzelnen Erkenntnisse zu einer Allgemeingültigkeit führen? Gibt es überhaupt eine unabhängige Erkenntnis, die frei ist von äußeren Einflüssen, von Erfahrungen, Eindrücken und empirischer Erkenntnis?

Erkenntnisse a priori und a posteriori
Kant nennt solche Erkenntnisse a priori, und unterscheidet sie von den empirischen, die ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung, haben. Wobei erstere der reinen Vernunft und Logik entstam¬men. Kant fordert von seiner „Erkenntnis a priori“, dass sie sowohl notwendig, als auch allgemeingültig sei. Als Beispiel dafür gibt er alle mathematischen Sätze an. Aber auch mathematische Gesetze haben sich erst als richtig erwiesen, nachdem die Beweisführung die Richtigkeit bestätigt hat. Also muss hier ein Erfahrungswert vorausgesetzt werden. Erkenntnisse a priori wären auch, dass jemand sitzt oder liegt, ein Zustand, der keiner Erfahrung bedarf.

Nach Kant wäre die Sinnlichkeit die Quelle apriorischer Formen der Anschauung, die jedoch an dem individuellen Vermögen zur Sinneswahrnehmung scheitert, also niemals allgemeingültig sein kann. Jeder sieht und empfindet anders, wer sagt uns also, dass unsere Sinne uns nicht täuschen?

Kant doziert: Von den Erkenntnissen a priori heißen aber diejenigen rein, denen gar nichts Empirisches beigemischt ist. So ist z.B. der Satz: eine jede Veränderung hat ihre Ursache, ein Satz a priori, allein nicht rein, weil Veränderung ein Begriff ist, der nur aus der Erfahrung gezogen werden kann.

Im Apriorischen bekundet sich die Gesetzlichkeit des reinen, erkennenden (transzendentalen) Bewusstseins selbst. Nur insoweit ist das Apriorische als subjektiv anzusehen. Ansonsten gilt es als objektiv, ermöglicht es ja erst einen objektiven Erfahrungs-zusammenhang dadurch, dass es nicht von einer subjektiven Wahrnehmung abhängig ist.

Unterteilung der menschlichen Erkenntnis
Alle menschlichen Erkenntnisse ließen sich also in zwei Hauptgattungen einteilen:
1. die aus den Sinnen entspringen und empirisch genannt werden,
2. die gar nicht durch die Sinne und damit nicht durch Erfahrung erworben werden, sondern ihren Grund in der beständigen Natur der denkenden Kraft der Seele haben und als reine Vorstellungen bezeichnet werden können, also als a priori und als transzendental zu bezeichnen sind.

Ein Beispiel: Wer kann sagen, was nach dem Tod geschieht, keiner hat ihn je erlebt und kam zurück, uns dies zu berichten. Es gibt somit keine Erfahrungswerte, die einen zu einer Erkenntnis führen könnten, es gibt lediglich Vermutungen. Und gerade diesen Vermutungen, welche über die Sinnenwelt ins Transzendente hinausgehen, gelten die Nachforschungen unserer Vernunft. Diese unvermeidlichen Aufgaben der reinen Vernunft selbst sind Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.

Die reine Vernunft ist diejenige, welche die Prinzipien, etwas schlechthin a priori zu erkennen, enthält. Wie sind solche Erkenntnisse einschließlich der daraus erwachsenden Entscheidungen ohne Erfahrung zu gewinnen? Gibt es eine Erkenntnis, die frei von allen Eindrücken der Sinne ist?

Sinn der Erkenntnis a priori
Benötigt man überhaupt Erkenntnisse a priori, um dem Begriff der Vernunft näher zu kommen? Was bringt uns dieses Wissen im praktischen Leben? Ist es nicht eher so, dass vernünftige Entscheidungen nur gefällt werden können, wenn man zuvor erfahren hat oder gelehrt wurde, auf welche Weise oder wodurch eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Ergebnis führt?

Stehe ich an einer Wegegabelung ohne Hinweisschilder, ohne zu wissen, was mich erwartet und wo mich der jeweilige Weg hinführt, kann ich keine vernünftige Entscheidung treffen, denn mir fehlen die nötigen Entscheidungshilfen. Wähle ich dennoch einen der Wege, hat mein Bauchgefühl die Entscheidung beeinflusst aber nicht die Vernunft.
Jedes Handeln bedingt also eine Wirkung, wobei uns die Erfahrung lehrt, dass etwas so oder so beschaffen sein oder enden kann, aber nicht muss, sondern sehr wohl anders sein könnte.

Der Induktionsgedanke des Sokrates
Mir scheint in diesem Fall die Induktion des Sokrates weit praktikabler. Aus einer Vielzahl von Ereignissen und Folgerungen, die eine entsprechende Wirkung auf eine gewisse Ursache erfolgen lassen, sind durchaus Wahrscheinlichkeiten zu erkennen.
Ich weiß also, dass nach einem Schlag auf die Wange diese schmerzt und sich rötet. Ich sehe, wie Menschen nach einer Beleidigung unterschiedlich reagieren, sei es mit Wut, Verzweiflung, Handgreiflichkeiten, verbalen Konterangriffen oder anderem. Gemäß meiner Erfahrung bin ich in der Lage, die Reaktionen auf einige wenige zu begrenzen. Und ich weiß, dass allen voran eine emotionale Entrüstung vorausgeht. Letztere ist die eigentliche Wirkung, die es vorrangig zu beachten gilt und nicht die daraus entstehende Sekundärreaktion. Meine Vernunft kann mir in Anbetracht dieser Abwägungen raten, wie ich mich zu verhalten habe. Ebenso weiß jeder Aktienzocker, wie leicht er bei hoch spekulativen Aktienanlagen seine gesamten Investitionen verlieren kann. Wenn er trotz besseren Wissens ein derart hohes Risiko eingeht, ist dies unvernünftig, selbst wenn ihn der Verlust des Einsatzes nicht schmerzen würde.

Disziplin analytischer Methoden
Hier ist ein objektives Abwägen der Vor- und Nachteile gefragt. Was könnten die Folgen einer bestimmten Handlung sein, was könnte bestenfalls wem widerfahren und was wäre der Worst Case? Aus dieser Analyse resultiert dann ein Handeln, das den größtmöglichen Erfolg wahrscheinlich sein lässt, ohne dabei selbst Schaden zu nehmen oder einem anderen selbigen zuzufügen.
Dies ist aber nur möglich, wenn die nötigen Informationen vorhanden und bekannt sind und auch dementsprechend verarbeitet werden können. Irrtümer lassen sich nur vermeiden, wenn der Verstand in der Lage ist, eine für alle in gleichem Maße gerechte Entscheidung zu fällen.

Vernunft ist erlernbar
Gemäß der weiter oben aufgeführten Variablen gestalten sich Auffassungsgabe, Erkenntnisvermögen und Verstand zu den limitierenden Faktoren der Vernunft. Je geringer die drei Parameter ausgeprägt sind, desto subjektiver entfallen die Vernunft und die daraus resultierenden Reaktionen. Eine objektive Vernunft kann nur erreicht werden, wenn die Menschen frei sind von Aberglauben, Irrtum und Fanatismus, drei maßgeblichen Eigenschaften, die in direkter Korrelation zum Erkenntnisvermögen der jeweiligen Person stehen und zwar umgekehrt proportional. Wer als Einzelner in seiner Beziehung zur Gemeinschaft seine Sinne besser zu gebrauchen versteht, sich um mehr Wissen bemüht, mehr Erfahrungen sammelt und das geistige Vermögen besitzt, daraus Erkenntnisse zu ziehen, die ihn zu Entscheidungen befähigen, handelt zum Wohle dieser Gemeinschaft.

Grundvoraussetzung ist dabei die Beachtung eines sittlich-moralischen Zusammenlebens, wobei sich Sitten- und Moralvorstellung je nach Epoche und Kultur wandeln kann.
Vernunft stellt daher einen Kompromiss zwischen den einzelnen subjektiven Wahrnehmungen dar und bildet den ‚Goldenen Schnitt’. Vernunft liegt oft in diesem Mittelweg, der Balance schafft zwischen unterschiedlichen Ansichten und Gegebenheiten.
Karl Jaspers: Die Demokratie setzt die Vernunft des Volkes voraus, die sie erst hervorbringen soll.