Eine Abhandlung zum Toleranzgedanken

 

Hundert Mal behandelt, hundert Mal diskutiert.

Man könnte meinen, es sei klar und eindeutig, was unter Toleranz zu verstehen ist. Weit gefehlt. So habe auch ich meine eigene Meinung zu diesem Begriff.

 

Entwicklung des Toleranzgedankens

 

Das Wort „Toleranz“ kommt vom lateinischen Verb „tolerare“, was soviel wie ertragen, erdulden, aber auch kritiklos akzeptieren bedeutet.
Man versteht darunter allgemein das Geltenlassen anderer Anschauungen, Normen, Werte und Handlungen, besonders in religiösen, politischen, ethisch-sozialen und wissenschaftlich-philosophischen Fragen.

Als Gedanken-, Glaubens- und Gewissensfreiheit hat sie seit der Aufklärung im Staatsrecht, in den Grund- und Menschenrechten zunehmend Rechtsverbindlichkeit erlangt. Im politisch-gesellschaftlichen Raum ist sie Bedingung und Kennzeichen einer pluralistischen Gesellschaft.

Toleranz bezeichnet die Fähigkeit, andere Meinungen und Verhaltensweisen den eigenen gegenüber als gleichberechtigt anzuerkennen. Das heißt nicht, sich diese zu Eigen zu machen, aber Minderheiten mit ihrer anderen Lebensweise zu tolerieren und sie so leben zu lassen, sofern sie dies wünschen und niemandem dadurch schaden.

In Bezug auf Sexualität ist Toleranz von besonderer Wichtigkeit, da sie den intimen Bereich betrifft, in dem Menschen besonders verletzlich sind. Da Sexualität meist in Beziehungen gelebt wird, ist es wichtig, dem anderen bei nicht übereinstimmenden Gefühlen, Wünschen und Vorstellungen mit Toleranz zu begegnen. Dann erst kann im Gespräch versucht werden, einen für beide annehmbaren Weg zu finden.

Der Ursprung des Begriffes ‚Toleranz’ ist jedoch in Beziehung der Religionen untereinander zu sehen. Bereits 313 im so genannten Mailänder Toleranzedikt zwischen den römischen Kaisern Konstantin I. und Licinius wurde das bis dato nicht tolerierte Christentum anderen Religionen im Römischen Reich gleichgestellt.

Laut Habermas ist das Wort ‚Toleranz’ erst im 16. Jahrhundert, also im Zusammenhang der Konfessionsspaltung, aus dem Lateinischen und dem Französischen entlehnt worden. In diesem Entstehungskontext hat es zunächst die engere Bedeutung der Duldsamkeit gegenüber anderen religiösen Bekenntnissen angenommen. Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts wird religiöse Toleranz zum Rechtsbegriff.

Damit schien ein Werk der Intoleranz, das „Alte Testament“, mit seinen Gräueltaten zunächst gebändigt, ebenso wie deren fanatische Verfechter.
Bedenkliche und gefährliche Gegenströmungen der Gegenwart finden wir in fundamentalistischen Gruppierungen, wie die der Evangelikalen in den USA und Brasilien, die Worte der Bibel wörtlich interpretieren und als die alleinige Wahrheit dogmatisieren.

Ungeachtet der Tatsache, dass im Neuen Testament (Phil 2,3-4) steht: Nichts tut mit Zank und eitlem Ehrgefühl. Sondern achtet Euch untereinander mit Demut, einer den anderen höher als sich selbst. „Und ein jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das des anderen.“
Ist dies nicht eine klar Aufforderung, den anderen und dessen Meinung zu tolerieren?

Regierungen erlassen Toleranzakte, die den Beamten und einer rechtgläubigen Bevölkerung tolerantes Verhalten im Umgang mit religiösen Minderheiten, wie- Lutheranern, Hugenotten, Papisten, auferlegen.
Aus dem Rechtsakt der obrigkeitlichen Tolerierung von Andersgläubigen und ihrer Praxis ergibt sich die Zumutung toleranten Verhaltens gegenüber Angehörigen einer bis dahin unterdrückten oder verfolgten Religionsgemeinschaft.

Toleranz ist nicht mehr eine Rechtsstellung, die von der Willkür des jeweiligen Herrschers abhängt, sondern nunmehr als Menschenrecht, auf Grundlage der Gleichheit aller Menschen, eingefordert wird. Die Erklärung der Menschenrechte in den USA (1776/1791) und die Französische Revolution (1798/1791) haben dafür die Vorraussetzungen geschaffen.

Das Toleranzprinzip als Norm leitet sich aus Art.1, Abs.1 und Art.2, Abs.2 GG ab, wonach die Würde des Menschen zu achten und die Entfaltung seiner Persönlichkeit zu respektieren sei. Das allgemeine Toleranzprinzip kommt ähnlich in vielen Länderverfassungen zum Ausdruck.

Im Englischen wird „tolerance“ als Verhaltensdisposition oder Tugend von „toleration“, dem Rechtsakt, deutlicher unterschieden als im Deutschen. Wir beziehen den Ausdruck „Toleranz“ auf beides: sowohl auf die Toleranz gewährleistende Rechtsordnung wie auf die politische Tugend des toleranten Umgangs. (Habermas)
Montesquieu hebt den konsekutiven Zusammenhang zwischen Tolerierung und Toleranz hervor: Sobald sich die Gesetze eines Landes mit der Zulassung mehrerer Religionen abgefunden haben, müssen sie diese auch untereinander zur Toleranz verpflichten. Daher ist es zweckmäßig, dass die Gesetze von diesen unterschiedlichen Religionen nicht nur fordern, dass sie den Staat nicht beunruhigen, sondern auch, dass sie untereinander Ruhe halten. Allerdings weisen die philosophischen Begründungen für religiöse Toleranz schon seit Spinoza und Locke den Weg vom obrigkeitlichen Rechtsakt der einseitig erklärten religiösen Duldung zu einem Recht auf freie Religionsausübung, das auf der gegenseitigen Anerkennung der Religionsfreiheit des Anderen beruht.

In der Einleitung zum Toleranzbrief von John Locke 1689 schreibt Ebbinghaus: Toleranz ist das Merkmal der wahren Kirche. Intoleranz widerspricht dem Liebesgebote Jesu und dem von ihm gegebenen Beispiel.
Rainer Forst stellt der „Erlaubniskonzeption“ der Obrigkeit, die religiöse Freiheiten gewährt, die „Achtungskonzeption“ gegenüber, die unserem Verständnis der Religionsfreiheit als Grundrecht entspricht.

 

Der Begriff der Toleranz in der Psychologie

 

In der Psychologie bezeichnet er die Fähigkeit, abweichende Werte und Meinungen zu ertragen. Wir unterscheiden:

Konflikttoleranz: Die alten Römer gebrauchten das Wort ‚confligere’, wenn verschiedene Meinungen aufeinanderprallten und zusammenstießen. Mit diesen gegensätzlichen Meinungen schadensfrei aber respektvoll umzugehen bedeutet Konflikttoleranz.
Stresstoleranz: Das englische Wort „stress“ heißt Druck. Stresstoleranz meint, ein gewisses Maß an Belastung aushalten können, ohne sich zu überfordern.

Fehlertoleranz: Der Anthropologe Prof. A. Portmann postulierte: Der Mensch ist ein Mangelwesen. Es ist demnach vollkommen natürlich, Fehler zu begehen. Diese aber nicht zu wiederholen, bedeutet einen Lernschritt vollzogen zu haben. Wer jedem Neuen, jedem Risiko ausweicht, aus Angst Fehler zu begehen, der ist weder kreativ noch innovativ. Jeder Fortschritt besteht in der Überwindung gemachter Fehler. Wer sich und anderen eine Fehlleistung niemals zugesteht, ist ein intoleranter Perfektionist.

Frustrationstoleranz: Frustriert ist, wer sein Ziel nicht erreicht und etwas anderes erhält, als er sich wünschte. Die Folge davon sind Unzufriedenheit, Enttäuschung und Verzicht, mit einem Wort Frust, das sich aus dem Lateinischen ‚frustatio’ herleitet. Da nicht alle Bedürfnisse zu dem Zeitpunkt zu befriedigen sind an dem wir sie uns ersehnen, ist es notwendig, Durststrecken auszuhalten und Misserfolge zu akzeptieren ohne sich entmutigen zu lassen. Wer hierzu imstande ist, der beweist Frustrationstoleranz, die gewiss ein Zeichen von Persönlichkeitsreife und Charakterstärke ist. Wer seine Frustrationen toleriert, der hat gelernt, Enttäuschungen zu ertragen.

 

Der Begriff der Toleranz in der Medizin

 

Immuntoleranz: Hierbei werden bestimmte körperfremde Antigene (Allergene, Bakterien, Viren, Proteine u. a.) durch das eigene Immunsystem nicht erkannt, wodurch keine Abwehrreaktion des Körpers erfolgt. Das ist ein passendes Beispiel für falsche Toleranz, das zeigt, wie schnell ein falsches Toleranzverständnis dazu führt, drohende Gefahren nicht zu erkennen und dadurch Schaden zu verursachen.

Schmerztoleranz: Menschen weisen ein individuelles Schmerzempfinden auf. Schmerz-toleranz bezeichnet das Maß an Schmerz, das wir gerade noch ertragen können, sei es körperliche oder seelische Pein. Je nach dem wie man mit dem Schmerz umzugehen versteht, kann man diese Grenze verschieben, wobei Schmerz durchaus auch einen positiven Aspekt hat, nämlich zu erkennen, woher und warum der Schmerz entstanden ist. Schmerz ist ein Warnsignal. Menschen aber neigen dazu durch Medikamente dem Schmerz ausschließlich symptomatisch zu begegnen, ohne ihn zu analysieren und zu verarbeiten.

Ludwig Böhme meinte: „Der Schmerz ist der große Lehrer des Menschen. Unter seinem Hauch entfaltet sich die Seele.“

 

Der Begriff der Toleranz im Gesellschafts- und Interaktionsbereich

 

Ambivalenztoleranz: Dieser Begriff setzt sich zusammen aus der lateinischen Vorsilbe ‚ambi’ (zweifach) und dem Verb ‚valere’ (gelten, wert sein). Ambivalent heißt demnach doppelwertig sein. Wer sich bewusst ist, und auch akzeptiert, dass alles seine zwei Seiten hat, dass man geteilter Meinung sein kann und dass man eine bestimmte Äußerung verschieden bewerten kann, der besitzt Ambivalenztoleranz. Er lässt den andern zu Wort kommen und nimmt dessen Sichtweise ernst, selbst dann, wenn diese nicht die Seine ist.
Ein echtes Beispiel solcher Toleranz gibt uns der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel (*121; 180) mit seiner Tagebucheintragung: Ich werde heute Menschen begegnen, die zu viel reden, die selbstsüchtig, überheblich, undankbar sind. Aber das wird mich weder überraschen noch beunruhigen, weil ich mir die Welt nicht ohne Menschen vorstellen kann.
Dieser Begriff der Ambivalenztoleranz bedarf einer ausführlicheren Betrachtung im folgenden Kapitel.

 

Toleranz als pragmatische Notwendigkeit

 

Toleranz bedeutet, wie zu Beginn erwähnt, Duldsamkeit gegenüber Andersgläubigen und Andersdenkenden. Goethe lehnte bloße Duldung als Nachsicht, als einfaches Hinnehmen ab, ohne sich zuvor mit den Dingen seiner Umwelt auseinandergesetzt und diese auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft zu haben.

Goethe sagt: Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein, sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.

Toleranz verlangt nicht danach, Unstimmigkeiten und Widersprüche zu verschleiern. Im Gegenteil, sie fordert, die Unmöglichkeit eines umfassenden einheitlichen Denkens anzuerkennen und darum fremde und gegensätzliche Ansichten ohne Hass und Feindschaft zur Kenntnis zu nehmen.

Toleranz meint auch nicht indifferentes, diffuses oder gar passives Verhalten, Selbstgefällig-keit oder Selbstgenügsamkeit, Gleichgültigkeit oder reines Duldungsverhalten, sondern aktives und positives, weltoffenes Engagement für die Vielfalt der Menschen.
Ein Rassist soll nicht tolerant werden, er soll seinen Rassismus überwinden.

In diesen und ähnlichen Fällen ist eine Kritik der Vorurteile und der Kampf gegen Diskriminierung als die angemessene Antwort zu sehen und nicht etwa ein Streben nach ‚mehr Toleranz’.
Insofern beginnt Toleranz erst jenseits der Diskriminierung. Wenn die Vorurteile gegen Farbige, ethnische Gruppen, Asylanten, Homosexuelle oder Frauen überwunden sind, bleibt keine Komponente mehr übrig, die eine Ablehnung rechtfertigen könnte.
Funktional betrachtet, soll religiöse Toleranz die gesellschaftliche Destruktivität eines unversöhnlich fortbestehenden Dissenses auffangen, so Habermas. Andererseits darf man nicht aus Angst vor Rassismus-Vorwürfen mit Kritik hinter dem Berg halten, wenn es sich um radikale und uneinsichtige Vorgehensweisen einzelner Staaten gegen die Menschenrechte handelt.

Henryk M. Broders schreibt in seinem Buch ‚Kritik der reinen Toleranz‘: „In der Debatte über den Umgang mit Schurkenstaaten wie Libyen kapitulierten Europas Politiker, statt klare Worte zu finden.“

Ins gleiche Horn stößt der „Provokateur“ Geert Wilders, in dem er Holländer und andere Europäer als Feiglinge betitelt, die schon „Hurra, wir kapitulieren!“ schreien, noch bevor der Kampf begonnen hat. Ende November 2007 erklärte nämlich Wilders, er wolle einen Film über den intoleranten und faschistischen Charakter des Korans auf den Markt bringen. Darin würde man auf einem geteilten Bildschirm einerseits Verse und Suren aus dem Koran lesen, darunter Beispiele der praktizierten Scharia sehen können, einschließlich einer Enthauptung und Steinigung.

Wer das schockierend findet, muss nicht mir böse sein, sondern denen, die diese Dinge verursacht haben, so Wilders.
Ein Sturm des Protestes brach daraufhin los. Die holländische Botschafterin in Malaysia warnte, es könnte bei Protesten Dutzende Tote geben. Der Großmufti von Syrien, Dr. Ahmad Badr Al Din Hassoun, verwies in einer Rede vor dem Europaparlament in Straßburg auf die Gefahren hin, die ihnen und der Welt bevorstünden: Sollte Wilders in seinem Film einen Koran zerreißen oder verbrennen, bedeutet dies einfach, dass er Kriege und Blutvergießen ankurbelt. Sollte es zu Unruhen, Blutvergießen und Gewalttaten nach der Sendung des Koranfilms kommen, dann wird Wilders verantwortlich sein.

Für diese Drohung wird der syrische Großmufti von den EU-Parlamentariern auch noch als Botschafter des Friedens, der Toleranz und des ‚interkulturellen Dialogs’ gelobt. Welche Farce und falsch verstandene Toleranz, wenn Gräueltaten nicht gezeigt werden dürfen, aus Angst vor Rache oder als religiöser Rassist zu gelten. Auch der stellvertretende iranische Außenminister kritisierte Wilders, in dem er sich auf Art. 29 der Menschenrechtserklärung von 1948 berief, worin zu lesen steht, dass individuelle Rechte ihre Grenze dort finden, wo es um den Respekt vor der Freiheit anderer Menschen geht und wo die öffentliche Ordnung es erforderlich macht.
Darauf traut sich gerade ein iranischer Staatsmann zu berufen, in dessen Land die Menschen¬rechte mit Füßen getreten, Homosexuelle öffentlich stranguliert und Ehebrecherinnen gesteinigt werden.

Dreist erscheint mir in diesem Zusammenhang auch die Äußerung von Hans-Gert Pöttering, dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, in dem er einen „Verhaltenskodex“ der Medien fordert, nichts zu publizieren, was von Religionsanhängern als ‚herabwürdigend’ ausgelegt werden könnte. Zugleich warnte er davor, trotz unserer Pressefreiheit keinen Beitrag zur Gewalt zu leisten.
Die „FAZ“ schrieb dazu: Diese klare Appeasement-Formel, mit der sich der oberste EU-Parlamentarier nicht an die Verursacher der Gewalt, sondern an deren Objekte richtet, die er zum Wohlverhalten ermahnt, sei ein Ergebnis ‚voreilender Furcht’ und klinge gefährlich nach Selbstzensur.

Toleranz aus Angst? – Das kann und darf nicht sein!
Toleranz darf nicht durch Druck oder aus Angst erzwungen werden, zur Toleranz muss man sich aus freien Stücken und freier Erkenntnis heraus erziehen. Jede Duldsamkeit kennt dabei zwingend ihre Grenzen, die mit der Belastbarkeit des einzelnen oder einer Gesellschaft einhergehen. Wird die Belastung zu groß und damit die Kompromisssituation derartig einseitig verschoben, dass die Bürden ungleich verteilt sind und für eine Seite unerträglich werden, ist die Toleranzgrenze des Hinnehmbaren überschritten.

Marcuse meint: „Gerade der Begriff der falschen Toleranz und die Unterscheidung zwischen gerechtfertigten und ungerechtfertigten Grenzen der Toleranz, zwischen progressiver und regressiver Schulung, revolutionärer und reaktionärer Gewalt erfordern, dass Kriterien ihrer Gültigkeit festgesetzt werden.“

Die Toleranzgrenze wird erst in Art 18 GG angesprochen: „Nur derjenige verwirkt die dort genannten Grundrechte, der aktiv-kämpferisch die ihm gewährleisteten Freiheiten benutzt, um eben diese Freiheitsordnung zu beseitigen.“

Verstößt der deutsche Staat nicht gegen sein eigenes Grundgesetz und übt falsche Toleranz, indem er zu milde gegen Gewaltverbrecher, Radikalismus und gegen religiösen Fanatismus vorgeht?

Tolerantes Handeln bedeutet, der Intoleranz den Boden zu entziehen. Genau das lässt der in Deutschland lebende gebürtige Afghane und TV-Produzent Nakschbandi implizit durchblicken, der sowohl seine eigene religiöse Gemeinschaft als auch die Bevölkerung in Deutschland anklagt: erstere, weil sie zu erheblichen Teilen immer weiter in einen fanatischen religiösen Gewaltkult abzurutschen droht. Letztere, weil sie das nicht sehen will.

Karl Popper sagte 1944: „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Tolerante vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“

Ein anderes Beispiel: Wenn die Justiz bei Gewaltverbrechern mildernde Umstände anerkennt, weil die Angeklagten eine schwere Kindheit hatten. Dabei steht es doch jedem Menschen frei, selbst zu entscheiden, welchen Weg er einschlägt, den rechten oder den rechtswidrigen.
Entscheidet sich der denkende Mensch aufgrund seiner Lebenserfahrung für das Unrecht, so muss ihn auch die volle Härte des Gesetzes treffen. Strafminderung für Mord, Totschlag oder schwere Körperverletzung ist da sicherlich Ausdruck einer falsch verstandenen Toleranz. Gleiches gilt für mangelhafte Autorisierung der UN-Truppen, wenn man sich folgenden Bericht durchliest.
Pressebericht an das II. Korps der Bundeswehr über die Blauhelmermordung in Ruanda:
[…] Bezeichnenderweise erst nach der Blauhelm- Abstimmung gelangen Einzelheiten zur Tötung von zehn belgischen Blauhelmen in Kigali beim Ausbruch des Bürgerkrieges in Ruanda nach und nach via hiesige Medien in die Öffentlichkeit. Die Fakten vermitteln ein Bild, welches das Blut in den Adern erstarren lässt. Als die zehn belgischen Blauhelme am 6. April 1994 zusammen mit der ruandischen Premierministerin umzingelt waren, teilten sie ihren Vorgesetzten per Funk die Forderung der ruandischen Rebellen nach Aushändigung aller Waffen mit. Auf telefonischen Befehl ihres Vorgesetzten lieferten die Belgier danach ihre Waffen aus. Als erste wurde darauf die Premierministerin Ruandas kurzerhand umgebracht. Die Blauhelme mussten sich völlig ausziehen und sich rücklings auf den Boden legen. Mit Messern wurden ihnen die Fußsehnen durchtrennt, damit sie nicht fliehen konnten. Dann begann das fürchterliche Exekutionswerk mit den gleichen Messern; einem wurden die Augen ausgestochen, einem anderen wurde die Nase, einem dritten das Geschlechtsteil abgetrennt. Das grausige Werk an den noch Lebenden nahm seinen Fortgang, bis die Körper der Belgier buchstäblich zerstückelt waren. Von einzelnen Tätowierungen auf den Körpern der Getöteten schnitten sich die Peininger persönliche „Erinnerungsstücke“ heraus.
Aus nur fünfhundert Meter Entfernung konnte ein anderes belgisches Blauhelm-Detachement das grausige Geschehen in groben Zügen mitverfolgen. Sie verlangten, unverzüglich mit Waffengewalt intervenieren zu dürfen. Das Blauhelm-Kommando untersagte ihnen indessen jegliche Intervention, so dass sie aus der Entfernung der Abschlachtung ihrer Kameraden ohnmächtig zusehen mussten. Kein Wunder, dass sich die belgischen Blauhelme nach ihrer Rückkehr in Brüssel die Embleme ihrer Blauhelm- Einheit in ohnmächtigem Zorn vor laufenden Fernsehkameras aus ihren Uniformen heraustrennten.
Ein ungekehrtes Beispiel verbirgt sich hinter dem Schlagwort „Nulltoleranz“, womit der Kampf gegen jedwede Kriminalität gemeint ist. Dieser Kampf beinhaltet aber auch ein striktes Vorgehen gegen Ausschreitungen aufgrund einer sozialen Unordnung, die auf Arbeitslosigkeit, prekäre Löhne und Sozialabbau zurückgeht . Die Opfer des deregulierten Marktes werden kriminalisiert und bestraft, obwohl den Staat selber die Schuld trifft. Man ist bemüht dadurch die negativen Folgen des Neoliberalismus und die eigene politische Unfähigkeit zu kaschieren. Ein Modell, das in allen Ländern, in denen die Schere zwischen arm und reich weit auseinanderklafft, in denen die Arbeitslosenquote hoch ist, Schule macht. Solange diese Grenzziehung autoritär, also einseitig vorgenommen wird, bleibt der Tolerierung der Makel der Willkür. Erst eine Bestimmung des Toleranzbereichs, die alle Betroffenen gleichmäßig überzeugt, kann der Toleranz den Stachel der Intoleranz ziehen.
Die Zehn Gebote im christlichen Glauben, natürlich außer dem ersten, in dem steht „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“, wären sicherlich so eine Grenzziehung.
Noch zielgerichteter träfe die Ermahnung nahezu aller großen religiösen und philosophischen Lehrmeister, die da lautet: Tue keinem anderen, was du nicht willst, das man dir tue!
Genau mit der Ernsthaftigkeit dieses Satzes werden zwischen den einzelnen ethischen Weltbildern mit ihren Werteorientierungen und ihren pluralistischen Lebensentwürfen Brücken geschlagen. Aus dieser Sicht enthält der Pluralismus gleichberechtigter Lebens¬weisen keine Provokation, so dass jeder in gleicher Weise geachtet werden kann ohne dass man dabei für alle Lebensweisen die gleiche Wertschätzung hegt. Wer sein ethisches Selbstverständnis jedoch aus Glaubensdogmen gewinnt und deren universale Geltung beansprucht, wird sich mit der ehrlichen Ausführung dieses Satzes schwer tun.
Der Toleranzgedanke basiert auf der reziproken Anerkennung von Regeln eines toleranten Umgangs und schließt somit die Zurückweisung von jeglichem Dogmatismus und Absolutismus ein. Die Toleranz hebt die negative Bewertung damit zwar nicht auf, aber sie führt plausible Gründe für die Duldung bzw. Respektierung der Toleranzobjekte an, so Rainer Forst.
Das oberflächlich betrachtete Paradoxon der Toleranz liegt also darin, dass Intoleranz, Verbohrtheit und Dogmatismus niemals toleriert werden dürfen, denn durch sie würde zwangsweise die Toleranz zerstört . Intoleranz, Fanatismus und Dogmatismus weisen somit der Toleranz ihre natürlichen Grenzen auf. Diese leiten sich von einer humanitären, sowie ethisch-moralischen Weltanschauung ab. Voltaire bezeichnete die Toleranz daher als die schönste Gabe der Menschlichkeit.
Laut der „Erklärung von Prinzipien der Toleranz“ der UNESCO von 1995 bedeutet Toleranz Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung und damit eine Tugend, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Dies betrifft aber alle Parteien gleichermaßen. Toleranz darf eben nicht nur einseitig gefordert werden. Viele religiöse Fanatiker fordern von den Deutschen Toleranz, gewähren sie umgekehrt aber nicht. Hier taucht wieder das Prinzip des „Goldenen Schnitts“ auf – wo beginnt und wo endet die Kompromissbereitschaft, wo endet die Toleranz?
Toleranz wird zur tugendhaften Selbstverpflichtung und zum Selbstzweck.
Dass die Gewalt beseitigt und die Unterdrückung so weit verringert wird, als erforderlich ist, um Mensch und Tier vor Grausamkeit und Aggression zu schützen, sind die Vorbedingungen einer humanen Gesellschaft, meint Herbert Marcuse .
Wo Ideologien, Lebensweisen und Glaubensrichtungen anderen dogmatisch aufgezwungen werden, wo die Freiheit einseitig beschränkt wird oder wo Privilegien für eine bestimmte Gruppe von Personen entstehen, wachsen Unzufriedenheit, Frustration und Aggression, die den inneren wie äußeren Frieden bedrohen.
Im Vorwort der UNESCO- „Erklärung von Prinzipien der Toleranz“ wird die Toleranz nicht nur als ein hochgeschätztes Prinzip bezeichnet, sondern als eine notwendige Voraussetzung für den Frieden und für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung aller Völker.
Einseitige Duldung von Intoleranz, Gewalt und Fanatismus führt unweigerlich zum Verlust der persönlichen Freiheit und der eigenen Entfaltungsmöglichkeit. Die Freiheit des einen endet aber immer dort wo die Freiheit des anderen anfängt – dieses Verhältnis darf nicht zu Gunsten einer Seite verschoben werden. Toleranz steht also immer in Beziehung zur individuellen und gesellschaftlichen Freiheit. Diese wird beschnitten, wenn Toleranz durch Intoleranz vergewaltigt wird.
Ulrich Wickert sagt: Um die Freiheit zu garantieren, muss der Toleranz Schutz gewährt werden.
Toleranz erfordert immer eine Bereitschaft zur Kompromissbereitschaft und zur Selbsteinschränkung. Die Schwierigkeit liegt in der Ausgewogenheit der Anteile am Kompromiss. Zur Lösung bedarf es eines ausgeprägten Vernunftdenkens, eines guten Selbstvertrauens, einer Charakterfestigkeit und intensiver Menschenliebe. Denn erst wenn sich die Menschen wie liebende Geschwister verhalten, sind sie bereit Kompromisse zu schließen ohne den anderen übervorteilen zu wollen.
Geschwisterliebe und Brüderlichkeit sind dabei ebenso wenig wie die Toleranz als einseitig zu sehen. Brüderlichkeit und Geschwisterliebe verlangen von beiden Seiten, die Schwächen des anderen zu akzeptieren und ihm seine Fehler zu verzeihen, immer innerhalb einer tolerierbaren Grenze. Gerade dieses ‚Verzeihen’ bedeutet oft ein Aufräumen mit Altlasten, die jede zukünftige Annäherung zu vergiften droht. Ein Neubeginn darf nicht durch vergangene Fehler überschattet werden.
Ein chinesisches Sprichwort besagt: Wenn wir den anderen ihr Anderssein nicht verzeihen, so sind wir noch nicht weit auf dem Wege zur Weisheit.
Diese Art von Nachsicht und Anteilnahme ist eine Form der Liebe. Denn wirkliches Verstehen bedeutet ausdrückliche Bejahung der anderen in ihrem Anderssein, was ohne Menschenliebe nicht möglich ist.
Wer sich auf der Basis der Brüderlichkeit bewegt, kann und muss davon ausgehen, dass ein wahrer Bruder ihm niemals etwas Böses wünscht oder antut, sondern ihm Achtung und Respekt entgegenbringt. Daher fordert Toleranz immer ein gegenseitiges Akzeptieren der Freiheiten eines Bruders bis zu dem Punkt wo die eigene Freiheit beginnt.
Wo beginnt aber die eine und wo endet die andere, an der Macht des Stärkeren? Nein! Gerade hier zeigen sich Brüderlichkeit und Geschwisterliebe, indem physische oder geistige Schwächen nicht ausgenutzt werden. Geschwister sind gleich wert und gleichberechtigt und finden sich immer auf einer Ebene. Funktion und Wert der Toleranz hängen von der Gleichheit ab, die in der Gesellschaft herrscht, in welcher Toleranz geübt wird. Dies fordert jedem ab, einen steten Kampf mit sich selbst, seinem Egoismus und seiner falschen Eitelkeit zu führen und letztendlich diese zu besiegen. Wahre Toleranz spiegelt sich somit in der Bereitschaft, seinen Mitmenschen für etwaiges Fehlverhalten zu verzeihen und in inniger Liebe für die Schöpfung, wider. Wer der Schöpfung und seinen Mitmenschen keine Liebe entgegenbringt, wer sein Ego als Maß aller Dinge ansieht, der wird die Toleranz mit Füßen treten und Intoleranz und Dogmatismus als Waffe zur Unterdrückung der Freiheit anderer nutzen. Intolerante Menschen sind also entweder gottlos, inhuman oder beides.
Aus dem oben Gesagten folgert, dass Toleranz mehr beiträgt zur inneren und äußeren Harmonie als deren Gegenteil, denn der Tolerante beharrt nicht hartnäckig auf seiner Ansicht. Ohne Toleranz ist ein harmonisches, friedvolles und gedeihliches Zusammenleben unter den Menschen kaum möglich. Und genau dieser Toleranzgedanke ist totalitären und dogmatischen Regimen und Kirchen ein Dorn im Auge und führte letztendlich zur Verunglimpfung und Diskriminierung der Freimaurerei und ihrer Ideale. Wer Toleranz predigt, der muss bereit sein, konstruktive Kritik auszuteilen und in gleichem Atemzug Kritik zu vertragen. Daran hapert es jedoch meist.