Die Arbeit am Rauhen Stein

Die Arbeit am Rauhen Stein

 

 

Laut der Großloge der AFAM steht der ‚Rauhe Stein‘ für den Menschen, wie er ist, solange er nicht beginnt, an sich zu arbeiten. In der symbolhaften Sprache des freimaurerischen Rituals ist der rauhe, also unbehauene, unbearbeitete Stein, gleichzeitig das Symbol für den Freimaurer-Lehrling. Diese Unvollkommenheit wird dem Neophyten dadurch angedeutet, indem er als „Einbeiniger“ mit hochgekrempelter Hose und Schlappen den Tempel betritt. Das Symbol des Einbeinigen lässt sich auf Mithras zurückführen. Mithras, der aus dem Fels geboren wird, ist der Einbeinige, d.h. er ist der noch nicht Vollständige, der er erst werden wird. So muss auch jeder Suchende erst ein freier Maurer werden.

Der ‚Rauhe Stein’ versinnbildlicht den einzelnen Menschen, der sich zum baufähigen Stein, einem Quader zu wandeln hat, damit er beim symbolischen Tempelbau (die freimaurerische Utopie einer harmonischen Vereinigung aller Menschen als Brüder) als passendes Teil in das Gesamtkunst­werk eingefügt werden kann. Der selbstkritische Freimaurer wird sich sein Leben lang als rauhen Stein, als Lehrling begreifen, denn Vollkommenheit ist uns Menschen leider nicht gegeben.

Trotz dieses Bewusstseins verpflichtet sich jeder Freimaurer beim Eintritt in die Loge von neuem dazu, an seinem ‚Rauhen Stein’ zu arbeiten, an sich selbst, an seinen Ecken und Kanten. Der Stein mahnt, die guten Vorsätze einzuhalten. Ähnlich wie sich viele zu Silvester die Vorsätze vom letzten Jahr erneut notieren, so wird dem Freimaurer dieser Merkzettel in gleichmäßigen Intervallen vorgelegt, um daran zu erinnern, welche hohen moralischen Anforderungen er sich selbst auferlegt hat. Der Stein als Zeichen unseres steten Strebens, unseren inneren Schweinehund zu besiegen, zu einem geläuterten Menschen, zu einem besseren Menschen zu werden, zu einem reiferen, vollkommeneren ICH. Der ‚Rauhe Stein’ bezeichnet in diesem Sinne einen dynamischen Prozess, der nie endet.

Dennoch platzieren viele Logen bereits im ersten Grad einen grob behauenen Würfel und im Gesellengrad einen polierten Kubus, der Vollkommenheit symbolisiert. Das ist natürlich Unfug, denn wie sollte ein Lehrling nahezu perfekt und ein Geselle vollkommen sein? Selbst die Großloge erklärt, dass der Stein im ersten Grad rau und unbehauen sei. Ein Quader oder Würfel ist weder roh noch unbehauen. Nehmen wir die Symbolbedeutung, so zeigt sich die Diskrepanz darin, wie der Charakter eines Lehrlings schon so gereift sein kann, dass er geometrische Konturen aufweist? Und der weit größere Affront im zweiten Grad, wo sich im spiegelglatten Kubus ein makelloser Charakter wiederfindet, grenzt an verblendetem Hochmut. Wozu weiter abmühen, könnte mancher Freimaurer denken, egal ob Lehrling, Geselle oder Meister. Schließlich signalisiert der plane Kubus, sein Ziel und damit die höchste Stufe der Selbstverwirklichung erreicht zu haben.

Diesem Trugschluss verfällt so mancher Freimaurer, versteift sich lieber auf’s Theoretisieren und legt die Hände von sich selbst eingenommen aber untätig in den Schoß. Dabei müssten den ‚frommen’ Worten mutige Taten folgen. An diesen Taten hapert es jedoch meist, denn vielen reichen bereits ein gesitteter Umgang, ein geselliges Miteinander und das Scherflein im Säckel der Witwe[1] als Beweis, diese beschwerliche Aufgabe erfüllt zu haben?

Nur das immerwährende Wachrütteln, die kritische Selbstbetrachtung ermöglicht einen Fortschritt in Hinblick auf einen wohlgefälligeren Stein. Nur wer in sich geht und sich selbst erkennt, kann auch die Härte und Sturheit, die in der Natur eines Steines nun mal liegen, überwinden. Nie darf man sich entmutigen lassen, nie darf man aufhören, an diesem Meisterwerk zu arbeiten, zu glätten, zu feilen, seinen Charakter zu ebnen. Am Rauhen Stein arbeiten bedeutet, sich selbst zu überwinden, Meister über sich selbst zu werden. Treffend unterstreicht dies ein altes Sprichwort von LAO-TSE: Wer seinen Feind überwindet, der zeigt Stärke, wer aber sich selbst besiegt, ist mächtig.

Ringen mit sich selbst bezeichnet der Freimaurer als „Königliche Kunst“ (siehe Kapitel „Königliche Kunst“). Doch was nützen all die hehren Ideale, wenn man sie nicht lebt. Ein Freimaurer soll sich als Vorbild verstehen und sich als solches im täglichen Leben bewähren. Die Frage wirft sich auf, welches Bild er vermitteln soll, wie schaut der Stein aus, den er zu bilden und zur Prüfung vorzulegen hat?

Es gibt Namen für die Unebenheiten und Vorsprünge an diesem symbolischen Stein, denen hartnäckig zu begegnen ist. Diese sind z. B. Dogmatismus, Intoleranz, Missachtung der Würde des Menschen und jeder Kreatur, Missachtung gegenüber der Schöpfung, Ungerechtigkeit, mangelnde Nächstenliebe, Überheblichkeit und Arroganz, Gier, Materialismus, Hass, Neid, Völlerei, Verschwendung, mangelndes Pflichtbewusstsein und Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen. Hier zeigt sich Handlungsbedarf und Beständigkeit.

Dieser Stein, dieser unser Charakter, dieser geformte Mensch muss sich in das Gesamtgefüge einer humanitär-humanistischen Gesellschaft einfügen. Es ist zu einfach, den zu verwerfen, dem es noch am Schliff fehlt, der seine Passform noch nicht erreicht hat. Gerade er, der erst rauh und eckig war, nun aber durch Selbsterkenntnis und Einsicht an Edelmut gewonnen hat, wird der Eckstein einer Festung, denn er hat begriffen und verstanden. Er hat sich aus einem trüben Mitläuferdasein befreit und zur Mündigkeit entwickelt. Er ist der Weise, der Meister, er ist der, der das große Eine und seinen Plan erkannte, er ist der, der handelte und sich selbst bezwang. In ihm ist Liebe, in ihm ist TAO in ihm ist das Göttliche, das Unaussprechliche, das uns alle verbindet, offenbart.

Auf diesem beschwerlichen Weg bedarf jeder der Hilfestellung, denn aus sich heraus wird man nur Teilbereiche seiner Charakterschwächen erkennen. Jeder bedarf des Spiegels, den man ihm vorsetzt, um sich selbst besser erkennen zu können. Wer aber meint, damit auszukommen, seinen Rauhen Stein im Stillen, allein und ohne Beurteilung durch die Brüder, zu bearbeiten und gleichzeitig dem Bruder absolute Toleranz für selbstverschuldetes Fehlverhalten abverlangt, der zeigt damit seine Angst, entlarvt zu werden. Wer konstruktive Kritik von anderen Brüdern ablehnt, weigert sich einen Spiegel vorsetzen zu lassen. Dieser Spiegel, dieses Feed Back ist es aber, das ermöglicht, objektiver sein eigenes Handeln beurteilt zu sehen und sich nicht in eigener Subjektivität zu verirren.

Es heißt zwar: Tue keinem anderen, was du nicht willst, dass man dir tue. Aber nicht selten will der andere doch etwas anderes. Denken wir an den Masochisten, der gequält werden möchte. Aber man selbst lehnt dies ab und quält den Masochisten eben nicht. Beim Sadisten liegt der Sachverhalt umgekehrt, er möchte quälen, aber selbst nicht gequält werden. Also dürfte er dem anderen keine Schmerzen zufügen, wo er sie doch selbst nicht mag. Es ist also nicht so einfach, alles auf den eigenen Willen zu reduzieren. Wir müssen uns schon mit dem anderen und dessen Willen beschäftigen.

Der Bruder, der meint, jeder dürfe nur an seinem eigenen Stein arbeiten und nicht an dem des anderen, hat insofern recht, dass ein Hämmern am Stein des anderen einer Vergewaltigung gleichkäme. Jeder muss diese Schwerstarbeit bei sich selbst erledigen. Doch für dieses Vorhaben liegt ein Masterplan vor, ein Bauriss, der die Maße angibt. Wer das Maß überzieht, darf sehr wohl kritisiert werden, denn der einzelne Stein hat sich nach dem Ganzen, nach der Gemeinschaft, nach dem symbolischen Bauwerk zu richten. Viele Brüder neigen aus Gründen des Selbstschutzes dazu, immer den Zeigefinger in die Höhe gestreckt, die Toleranz des Bruders anzumahnen. Dabei wird die Angst, eigene Fehler könnten entlarvt werden, zur Triebfeder. Wer konstruktive Kritik von seinen Brüdern ablehnt, weigert sich einen Spiegel vorsetzen zu lassen. Dieser Spiegel, dieses Feed Back ist es aber, das ermöglicht, sein eigenes Handeln objektiver zu beurteilen. Fakt ist doch, dass man in einer zwischenmenschlichen Beziehung nur im Dialog, sei es verbal oder nonverbal, erfährt, was dem Partner oder Mitmenschen an einem selbst gefällt oder missfällt. Ob das Gleiche in gleichem Maße bei einem anderen Menschen mit anderen Ansichten und Eindrücken zutrifft, bleibt zunächst offen und findet nur im Dialog Klärung. Hinzu kommt, dass viele Brüder davon überzeugt sind, nur weil sie Freimaurer sind und das womöglich schon seit vielen Jahren, sie könnten dieser schweren Aufgabe der objektiven Selbstbeurteilung alleine Herr werden. Doch das ist ein Irrweg, denn man würde sich unweigerlich in seiner Subjektivität verheddern. Die Urfreimaurerei hat genau gewusst, warum man in Gruppen arbeiten soll, nämlich um ein nahezu objektives Bild zu erhalten. Erst in der Symbiose der einzelnen Steine entsteht ein fruchtbares Ergebnis.

Sicherlich ist es immer eine Frage der gegenseitigen Toleranz, wie weit der Kritiker gehen darf, bevor sich der Kritisierte unangenehm berührt fühlt (Siehe Essay „Kritik ja – Kritikaster nein!“). Zur Überprüfung der Toleranzgrenze sollte immer das Winkelmaß angelegt werden. Im Bauhandwerk ist dafür der Kapo oder Polier zuständig, der die Arbeit der Lehrlinge und Gesellen kontrolliert. Im Handwerk eines Freimaurers ist es der Bruder Meister, der das Anlegen des Winkels übernimmt.

Es gibt einige Menschen, die mit ihrer Art anderen Energie rauben. Diese sogenannten Energiediebe dürfen durchaus entlarvt werden. Damit meine ich, man sollte sie auf ihre besondere energieraubende Verhaltensweise hinweisen, brüderlich hinweisen. Kritik ist notwendig, um die Harmonie in der Gemeinschaft zu erhalten oder wiederherzustellen. Bei der Arbeit am Rauhen Stein geht es nicht um Gleichmacherei, bis alle Steine passgenau sich ähneln, es geht vielmehr darum, die Rahmenbedingungen und Normen einer Gesellschaft zu beachten.

Bei der Arbeit am Rauen Stein geht es also darum, dass sich der individuelle Stein in eine Gemeinschaft einpasst und mit dieser harmoniert. Um dies zu erreichen bedarf es der Selbstreflexion sowie der Beurteilung von außen durch den Bruder Meister, der das Werk des Lehrlings oder Gesellen auf Passgenauigkeit und Harmonik prüft. Wer diesen Weg zu beschreiten vermag, ist der ‚Königlichen Kunst’ mächtig.

[1] Im Säckel der Witwe sammeln Freimaurer nach einer Ritualarbeit Spenden für notleidende Mitmenschen.