Eine Gemeinschaft in der Gesellschaft

 

 

Kritische Stimmen werden verschwiegen

Es ist für unsere obrikgeitshörige Mainstreampresse bezeichnend, dass sie Stimmen denkender und scharf analysierender Personen, die eine internationale Anerkennung genießen und keineswegs als querdenkende Dummköpfe zu bezeichnen sind, verheimlichen.
So die von Giorgio Agamben.

Giorgio Agamben ist ein italienischer Philosoph, Essayist und Buchautor, der an der Universität Venedig und am Collège international de philosophie in Paris lehrt. Er gehört zu den bekanntesten Philosophen der Gegenwart!

 

Giorgio Agamben schreibt am 17. September 2021 für Quodlibet.it

Und es sind diejenigen, die unklugerweise gehorcht haben, die den Preis dafür zahlen werden.

Italien, das politische Laboratorium des Westens, in dem die Strategien der herrschenden Mächte in ihrer extremen Form im Voraus ausgearbeitet werden, ist heute ein Land in menschlichem und politischem Ruin, in dem sich eine skrupellose, zu allem entschlossene Tyrannei mit einer von pseudoreligiösem Terror beherrschten Masse verbündet hat, die bereit ist, nicht nur die so genannten verfassungsmäßigen Freiheiten, sondern sogar jegliche Wärme in den menschlichen Beziehungen zu opfern.

Zu glauben, dass der grüne Pass eine Rückkehr zur Normalität bedeutet, ist in der Tat naiv. So wie bereits ein dritter Impfstoff eingeführt wurde, werden neue Impfstoffe eingeführt und neue Notsituationen und rote Zonen ausgerufen werden, solange die Regierung und die Machthaber dies für sinnvoll halten. Und es sind diejenigen, die unklugerweise gehorcht haben, die den Preis dafür zahlen werden. Unter diesen Bedingungen müssen die Dissidenten, ohne jedes mögliche Instrument des unmittelbaren Widerstands aufzugeben, darüber nachdenken, so etwas wie eine Gesellschaft in der Gesellschaft zu schaffen, eine Gemeinschaft von Freunden und Nachbarn innerhalb der Gesellschaft der Feindschaft und der Distanz.

Die Formen dieser neuen Klandestinität (Heimlichkeit), die sich so weit wie möglich von den Institutionen unabhängig machen muss, müssen von Zeit zu Zeit überdacht und erprobt werden, aber nur sie können das menschliche Überleben in einer Welt garantieren, die sich einer mehr oder weniger bewussten Selbstzerstörung verschrieben hat.

 

Hans Ulrich Gumbrecht schrieb bereits am 

„In Agambens Sicht hat dann der an Macht gewinnende moderne Staat dieses Strukturelement «unter Ausnahmebedingungen» immer systematischer genutzt, um bestimmte Menschengruppen zu marginalisieren und nach Möglichkeit auszulöschen. Die gesamten zwölf Hitler-Jahre etwa vollzogen sich unter der gesetzlichen «Ausnahme»-Prämisse, welche Juden, Sinti, Homosexuelle, aber auch politische Gegner zu «nacktem Leben» machte.“

 

Ausnahmezustand

In seinem Buch „Ausnahmezustand- Homo sacer II.1“ warnte Agamben bereits 2004:

„Insofern der Ausnahmezustand zur Regel zu werden droht, sind die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats und das verfassungsgemäße Gleichgewicht der Gewalten gefährdet, und die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur verschwimmt.“

Und genau das ist eingetroffen! Giorgio Agamben sieht sich durch die Corona-Vorkehrungen in seiner Idee bestätigt, dass der Staat stets dem Ausnahmezustand zustrebt. Der größte Widersacher des Denkens ist allerdings das Recht-behalten-Wollen.

Letzteres sehen wir täglich in allen Ländern, die an die Heiligkeit der Impfung gegen Corona glauben. Keiner der Impfbefürworter kann es sich leisten, einzugestehen, er habe Unrecht gehabt, denn das würde massenhafte Schadensersatzklagen nachsichziehen.

Gumbrecht weiter: … „Als Folge des wiederholten Rekurses auf den Ausnahmezustand ist darüber hinaus auch die Grenze zwischen Demokratie und Diktatur durchlässiger geworden. Selbst eine Regierung, die von Phasen unter Ausnahmebedingungen immer wieder zur legalen Normalität zurückkehrt, wird sich an eine Machtausübung ohne Begrenzungen gewöhnen.

…Mittels durch Covid-19 geschürter Furcht vor ihrem eigenen Tod sind die meisten Bürger erstens zu jeder Art von Verzicht motivierbar. Und dies, obwohl zweitens die Flut der täglich publizierten Statistiken nun schon seit fast einem Jahr keine greifbare Vorstellung von der je individuellen Bedrohung hervorbringt. Stattdessen haben sich – drittens – die Medizin und ihre Aura von Wissenschaftlichkeit als eine neue Religion etabliert, die mit der Unterscheidung zwischen Krankheit und Schutz vor dem Virus alle Räume der Gesellschaft durchherrscht. Viertens werden unter diesem absolut gewordenen Gegensatz alle Modalitäten von direkter Kommunikation und menschlicher Begegnung durch elektronische Interaktionen – Interaktionen «auf Distanz» also – ersetzt.

Tod und Intensität

Den Vorwurf, eine «Verschwörungstheorie» zu entwerfen, und die daraus folgende Aburteilung als «Querdenker» pariert Agamben mit einem Motiv aus Michel Foucaults Geschichtstheorie. Gesellschaftlicher Strukturwandel solcher Dimension, heisst es dort, vollziehe sich nicht im Interesse und in der geheimen Regie machthungriger Protagonisten, sondern durch anonyme Veränderungsschübe sozialer Systeme ohne jede Vermittlung mit den Interessen der Bürger. Gegen den anderen Einwand, er stehe mit seiner Deutung der Pandemie auf der Seite von Politikern wie Jair Bolsonaro oder Donald Trump, kehrt Agamben das Argument, dass zutreffende Einsichten durch Gebrauch von der falschen Seite nicht ungültig würden.

…Im Text über «ein gesichtsloses Land», in dem Agamben illustriert, dass maskenverhangene Gesichter den für unser Leben entscheidenden Gestus der Offenheit gegenüber allen anderen Menschen verlieren.“

Quelle: Giorgio Agamben: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik. Aus dem Italienischen von Federica Romanini. Verlag Turia + Kant, Wien 2021. 155 S., Fr. 24.90. https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-corona-und-das-leben-im-ausnahmezustand-ld.1599539